Make new Memory oder wie ich von vorn begann (German Edition)
kindlichen Kulleraugen
wortlos um Mitleid heischend. Für jede Aufgabe verschleißt die Schmidts ein
weiteres Kind. Junge, Mädchen, Streber, Loser. Sie macht keine Unterschiede.
Sie zerrt uns aus unseren Festungen, saugt uns aus, labt sich an uns in ihrer
eigenen Finsternis. Unsere leeren Hüllen wirft sie achtlos hinter sich wie
Lumpenpuppen. Und sie wächst. Verdunkelt die Sonne. Nur ihr Schatten verrät
ihre wahre Gestalt. Sie ist der Weltenverschlinger. Mir wird kalt. Ich kann
meinen Atem sehen. Wie kleine Nebelwolken kommt er stoßweise aus meinem Mund.
Verlässt mich Zug um Zug wie die Seele den Körper im Augenblick des Todes. Ich
laufe Gefahr, mich in der Finsternis zu verlaufen. Ich kann keinen Schritt mehr
gehen. Ich gefährde die Mission. Wenn ich in den Abgrund stürze, reiße ich alle
mit hinab. Weil wir angebunden sind. Verbunden. Eins.
Doch ein Licht blitzt auf. Es
scheint nur für mich. Vertreibt das Schwarz und richtet mich auf. Wärmt mich.
Es ist Bettina. Sie weiß nicht, was Angst ist. Das Dunkel kann sie nicht
berühren. Sie strahlt wie die Venus in einer sternenklaren Nacht im Sommer über
dem See. Denn was keiner weiß: Bettina ist ein Wesen des Lichts. Sie schwebt
zur Tafel und zieht einen leuchtenden Schweif hinter sich her wie eine
Sternschnuppe. Ihre Füße berühren nicht einmal den abgewetzten Linoleumboden.
Sie schwingt die Kreide wie ein Dirigent den Taktstock zur schönsten Symphonie.
Die Schmidts lauert in ihrer feuchten Grotte. Sie renkt sich den Kiefer aus.
Will Bettina ganz und gar verschlingen, ist rasend vor Eifersucht und will sie
sich einverleiben. Speichel tropft ihr aus dem Maul. Dann geschieht es. Sie
schnappt zu. Doch ihre langen Zähne gleiten ab an Bettinas innerem Licht wie an
einem Panzer. Die Schmidts wütet und fährt die Klauen aus. Sie sind wie Dolche.
Doch Bettina ist unverwundbar. Nichts kann ihr etwas anhaben. Der Gong ertönt.
Die Schmidts kreischt wie eine Banshee und zerfällt zu schwarzem Staub, den der
Wind hinfort trägt. Die Wolken verziehen sich und der Klassenraum wird hell.
„Was geht denn mit dir?“, fragt
mich Thomas.
Ich weiß nicht, was er meint.
„Der Schmidts so blöd kommen. Deine
Note möchte ich nicht haben!“
Der alte Aberglaube unter Schülern,
dass Lehrer ihre Noten nach Sympathie vergeben, erscheint mir plötzlich nicht
mehr so abwegig.
„Die kann mich mal“, sage ich mit
gespielter Gelassenheit.
„Der Coole wieder“, lacht Thomas.
Jörg schnappt sich Stephan, einen
spindeldürren Jungen, der immer mit den Mädchen rumhängt und sich auch wie eins
benimmt, und rauft ihn zu Boden. Klaus isst ein Brot, redet trotzdem, und ich
verstehe kein Wort. Martin sitzt auf Bettinas Tisch. Das stört mich.
Mit dem Gong betritt der
Geschichtslehrer Herr Völker die Klasse. Alle setzen sich schnell auf ihre
Plätze und halten die Klappe.
Herr Völker ist spitze. Er bekommt
Respekt, weil er ihn verdient. Er ist groß wie ein Bär, spricht mir sonorer
Stimme und norddeutschem Dialekt. Seit gefühlten Ewigkeiten behandeln wir das
Dritte Reich. Damit wir das alle nie vergessen und so was Furchtbares nie
wieder passiert. Zumindest uns nicht. Schon richtig, da kann man nicht
vorsichtig genug sein. Herr Völker war selbst Flüchtling, was dem Unterricht
eine besondere Würze verleiht. Mit großem Interesse folge ich seinen
Ausführungen. Martin sitzt gelangweilt neben mir und schmiert Hakenkreuze in
sein Heft.
Große Pause. Wir sind schon zu alt,
um wie die Irren aus der Klasse auf den Hof zu stürmen. Das übernehmen die
Schüler der fünften und sechsten Klassen für uns. Kinder . Die Sonne
scheint, als wir uns um die steinerne Tischtennisplatte gruppieren, die im
Schatten der Bäume an der Grenze unseres Schulhofes zu dem der Grundschule
steht. Ich habe Hunger, aber nichts dabei. Jörg und Martin verziehen sich in die
Raucherecke hinter der Turnhalle. Von dort sieht man die Lehrer kommen, bevor
sie einen sehen. Klaus und Thomas reden über Fußball. Silvia und Claudia gehen
zusammen zur Toilette. Bettina und ich bleiben übrig. Sie hat klein
geschnittenes Gemüse in einer Tupperdose dabei, bietet mir einen Streifen
Paprika an, den ich dankbar nehme.
„Ich freu mich so auf die Fete“,
sucht sie das Gespräch.
„Ja, ich auch. Das wird cool“, sage
ich.
„Du musst aber auch wirklich
kommen.“
Sie knabbert an einer
Gurkenscheibe. Ich nehme mir auch eine.
„Warum sollte ich denn nicht
kommen?“
Und im gleichen Moment, als
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