Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Mal Aria

Mal Aria

Titel: Mal Aria Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carmen Stephan
Vom Netzwerk:
wahrnahm, bevor er einen Gedanken fassen konnte. Als letztes Stück Leben bewegte sie ihre Beinchen, klappte sie nach innen, klappte sie zurück nach außen, streckte sie senkrecht von sich, als wollte sie einen letzten Fluchtversuch unternehmen. War das nichts? War das keine Empfindung? Das Insekt klebte auf der Innenfläche seiner linken Hand. Ein grauer, staubiger Fleck fand sich auch auf seiner rechten, aber das Gros des Körpers war auf der linken. Dunkle Masse, Gedärme fein säuberlich neben den Gliedern. Panisch wischte der Mann das Tier von der Hand, das an seinem eigenen Blut gut klebte. Er war so entsetzt von der Konsistenz des Körpes, wie er auf seinem eigenen haftete, dass er das Insekt, in seiner Hast, es loszuwerden, geradewegs in den Kaffee bugsierte. Darüber wiederum war er so bestürzt, dass er das mit Kaffee getränkte Tier am Torso packte und weit von sich schleuderte. Beim Herausziehen lösten sich zwei oder drei Beine, sie schwammen in der braunen Brühe davon, als handle es sich um Flöße auf einem Strom; sie sanken für immer auf seinen Grund. Voller Abscheu schob der Herr den Kaffee von sich.
    Wieso wir euch selbst, wenn wir tot sind, noch so außer Fassung bringen können, das wisst nur ihr.
    Sonst bringt euch doch so wenig außer Fassung. Diese Menschen tragen weiße Kittel, sie benehmen sich wie Ärzte. Aber waren sie wirklich welche? Sie waren Maschinen. Ihr Blick war ein serieller Blick. Etwas wird nur erkannt, indem man es wiedererkennt. Wenn einer sagte »Es ist Gelbfieber«, vielleicht war es dann mal Gelbfieber. Vielleicht könnte es dann wieder Gelbfieber sein. Die Krankheit spricht in ihrer Sprache. Es ist eine unmittelbare Sprache, in der die Dinge noch keine Bedeutung haben. Sie ist reine Erfahrung. Die weißen Kittel versuchen, einzelne Wörter dieser Sprache zu verstehen. Die Buchstaben: das hohe Fieber, der Kopfschmerz, die Anämie, die Blutungen, die Werte, die Bilder, das fahle, gelbliche Gesicht, die verklammerten Hände. Sie bilden Wörter aus den Buchstaben. Wörter, die sie kennen. Wörter sind nicht die Sprache.
    Nur einer der Ärzte war ein kleiner Lichtblick. Ich nannte ihn Giovanni, weil er mit seinen buschigen Augenbrauen, der braunen Haut, seiner kleinen Statur wie ein Italiener aussah. Es war zu früh zum Aufgeben. Wir brauchten einen Verbündeten. Einer, der uns einen Feind schenkte. Und die Italiener und die Malaria, das war eine uralte Verbindung. Das war die Geschichte, die mich umzingelte.
    *
    Der blumige Engländer hatte uns gefunden. Aber was genau hatte er gefunden? Eine graue Mücke mit gefleckten Flügeln; durch deren Stichwaffe die Dämonen in einen Sperling schlüpften. Er kannte unseren Namen nicht. Wusste nicht, ob sich der Kreis, der sich in einem Vogel schloss, auch in einem Menschen schließen würde. Mit diesem Nicht-Wissen reiste er ab. Ross kehrte nach London zurück. Beleidigt, weil die indischen Behörden ihm die Gelder für weitere Forschungen versagt hatten. Erschöpft, kränkelnd, froschblütig von den vielen Stunden vorm Mikroskop. Und dann diese Hitze, unerträglich. Sir Ronald Ross hatte den richtigen Schlüssel in die Tür gesteckt und war zu faul, ihn umzudrehen. Würde am Ende doch ein Italiener den letzten Stich machen? Die Menschen schlugen die Hände über dem Kopf zusammen, als im Juli 1898 die Nachricht von Ross’ Entdeckung die Stadt Rom erreichte. Sie konnten es nicht fassen: zuerst ein Franzose, nun ein Engländer. Noch so ein Amateur, der das Feld bestellte, obwohl die Malaria den Italienern gehörte. Hier trieb sie ihr Unwesen, hier waren die berühmtesten Forscher der Welt hinter ihr her.
    Einer von ihnen war Giovanni Battista Grassi. Ein feiner Herr, mit einem verträumten Blick, der alle zu täuschen vermochte. Grassi wurde 1854 am Comer See geboren, wo sich die Alpen sentimental vor rosafarbenen Villen erheben. In seiner Kindheit streifte er im Frühnebel durch die Bergwälder am See, sammelte Pilze und Käfer mit behaarten Beinen. Als kleiner Junge wollte er Biologe werden. Aber – Schicksal? – Grassi musste wie Laveran und Ross auf Wunsch seines Vaters zuerst Medizin studieren. Später wurde er einer der berühmtesten Zoologen der Welt. Malaria untersuchte er an Eulen, Schweinen und Spatzen, und er beschrieb die Verbreitung der Mücken in Italien. Mindestens fünfzig Arten gab es, aber nicht alle kamen als Überbringer in Frage. Grassis sanfte Augen hinter den runden Brillengläsern trogen. Er war ein kühler

Weitere Kostenlose Bücher