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Mal Aria

Mal Aria

Titel: Mal Aria Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carmen Stephan
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drückte?
    Ihre ganze Kraft nahm sie zusammen für die Frau mit dem Häubchen.
    »Ich möchte auf mein Zimmer.«
    »Der Pfleger fährt sie.«
    »Ich muss aber bitte sofort auf mein Zimmer, der …«, dem letzten Wort folgte ein Rülpser.
    Die Schwester nahm unbeeindruckt die Unterlagen der Vierzigjährigen entgegen.
    Man kann jede Arbeit kreativ und damit frei tun. Ob man Steine schleppt oder Akten ordnet. Man kann es immer auf seine eigene Art machen. Oder man verschwindet in der Schablone, in der Vorlage, im Amt; und ist selbst nicht mehr sichtbar.
    Carmen holte tief Luft. »Dann fahre ich alleine«, in ihren Augen blitzte es.
    »Das dürfen Sie nicht«, ein kühler Blick der Empfangsdame, die sich wieder den Unterlagen zuwandte. Die Vierzigjährige sah Carmen an, als wollte sie sagen: Was ist bloß mit Ihnen los? Wieso können Sie nicht kurz warten?
    Auch der Kahlköpfige wandte sich ihr zu, zwei Augen schoben die Schlupflider nach oben. Es war, als säße sie mit ihrem Rollstuhl auf einem Holzpodest, inmitten einer riesigen Wiese, und alle starrten sie an. Niemand tat etwas.
    Sie hob den Kopf, schluckte. Da war ein Schatten. Durch das Glas hindurch sah sie eine Gestalt. Braun. Hellbraun. Hinter der Glastür stand ein Fohlen. Es schaute sie mit großen ruhigen Augen an; das Tier spitzte seine Ohren.
    Es war ein sehr heller Morgen, ein Licht, wie wenn sich etwas Schönes ankündigt. Das Mädchen hatte sich schon die ganze Woche gefreut, mit ihrem Onkel, dem Pferdeonkel, und ihren Pferden auf einen Markt zu fahren, wie sie es schon oft getan hatten. Sie fuhren dorthin, um ihre Pferde durch die Reihen zu führen, betrachtet, bewundert zu werden. Es war ein erhabenes, schönes Gefühl für das Mädchen, ihr Glück zu teilen, ihre Pferde zu zeigen. Niemals ging es darum, die Pferde zu verkaufen. Niemals. Das war ein vollkommen anderer Ansatz, man fuhr hin, um sie zu zeigen, dann fuhr man wieder nach Hause. So auch an diesem Tag.
    Sie luden das schwarze Pony, das sie mit vier Jahren von ihrem Vater geschenkt bekommen hatte, dessen hellbraunes Fohlen, die Apfelschimmelstute und den dunkelbraunen Einjährigen in den Anhänger und fuhren los. Wolken trieben fröhlich über den Himmel, die Sonne schien ihr ins Gesicht. Es war ein Festtag. Der Pferdeonkel sagte wie immer wenig, aber auch er war gut gelaunt und pfiff vor sich hin. Schließlich erreichten sie den kleinen bayerischen Ort. Sie führten die Pferde über den Marktplatz, so wie sie es immer getan hatten. Sie banden die Pferde an eine Holzstange, aufgereiht, herausgeputzt, mit Schleifen im Haar. Menschen gingen vorbei, Kinder streichelten die Gesichter der Pferde, und das Mädchen war glücklich.
    Da sprach ein dicker schwarzhaariger Mann, der wie ein Gnom aus einem Märchenbuch aussah, den Onkel an. An seiner linken Hand trug er einen riesigen goldenen Ring. Er sprach auf den Onkel ein, und das Mädchen verstand gar nicht, worum es ging, sie sah nur, wie der Onkel ihm die Hand gab.
    Dann kam der Mann, mit einem dicken roten Stift, etwa wie ein Wachsmalstift, und malte auf jedes ihrer Pferde ein großes »P« auf die linke Seite des Hinterteils, auf das Fell. Das Mädchen sagte: »Onkel, was ist da los? Was macht der da?« Als der Onkel sie nicht anschaute, sondern kurz in die Ferne schaute, als gäbe es da hinten, am Ende des Marktes etwas Interessantes zu sehen, wusste sie, was es bedeutete, und verstand es doch nicht.
    »Onkel, was hast du gemacht?«
    »Der Mann kommt aus Italien und hat mir gesagt, er würde die Ponys gerne für seine Kinder kaufen, da habe ich sie ihm gegeben.«
    »Was? Aber du musst Papa anrufen. Du kannst sie nicht verkaufen. Die Ponys gehören doch uns.«
    »Ja, aber ich versorge die Pferde, Carmchen, und mir wird das zu viel. Mir wird das zu viel.«
    »Aber ich kann mich doch um sie kümmern. Du musst sie zurückkaufen, bitte!« Ihr Blick hatte etwas Grausames bekommen.
    »Das geht jetzt nicht mehr.«
    Etwas in ihr brach in zwei Teile, sie wollte sich übergeben. Durch einen Nebelschleier sah sie, wie der dicke schwarze Mann die Pferde holte, sie zu einem Transporter führte. Und da sah sie, dass es ein riesiger Transporter war, dass er noch zwanzig andere Pferde gekauft hatte, die alle das rote »P« trugen, und sie verstand, dass die Pferde nicht für seine Kinder waren.
    Der Laster war grün und silbern und hatte winzige Luftschlitze. Sie hatte so einen Laster schon mal gesehen: als Schweine zu einem Schlachthof gefahren wurden. Sie

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