Mal Aria
hatte von solchen Transporten gehört, sie wusste, dass die wenigsten Tiere es bis nach Italien überlebten. Sie wollte schreien. Aber es kam kein Ton aus ihr. Ihre Pferde wurden in den Laster gezerrt, das Fohlen lief der Mutter vertrauensvoll hinterher. Ihre Pferde standen ganz außen. Sie hielt die Hand an den Luftschlitz und spürte den warmen Atem des schwarzen Ponys. Tränen liefen ihr über die Wangen.
Bitte fahr nicht los, bitte. Ich möchte meinen Vater anrufen. Bitte, irgendjemand, ein Erwachsener, muss den Laster aufhalten, ich weiß nicht, wo er hinfährt, ich finde meine Pferde nie wieder.
Sie konnte nichts tun. Sie konnte nichts fassen. Dass jemand das zuließ. Etwas Schreckliches geschah, und jeder dieser tausend Besucher hier auf dem Markt ließ es geschehen. Menschen standen um den Transporter, schauten zu, wie die Tiere verladen wurden. Das Fohlen fand nur unter dem Bauch der Mutter Platz. Das Mädchen streckte seine Finger durch den Schlitz, spürte wie das schwarze Pony die Nüstern gegen ihre Hand presste. Der Motor sprang an, Panik erfasste sie, jetzt, ganz schnell, konnte man noch etwas tun, den Transporter aufhalten.
Das Bild, wie alltäglich der Laster rechts in die Straße einbog; verschwand. Die Vorstellung, wie das Fohlen unter dem Bauch der Mutter fiel, in der Enge nicht mehr hochkam.
Sie fuhren mit dem leeren Anhänger nach Hause. Kein einziges Mal hob das Mädchen den Kopf, und sie sah die Sonne nicht, die wieder in ihren Augen blinzelte. Sie sprach kein Wort mit ihrem Onkel, sie fuhr nicht mehr nach Italien, und sie träumte ein, zwei Jahre lang jede Nacht von ihren Pferden. Träumte davon, dass sie eines Morgens in ihrem Garten stehen. Wurde von ihrem Wiehern geweckt. Das Fohlen blieb in ihrem Traum drei Monate alt. Heute noch ist es drei Monate alt. So stand es vor ihr, hinter Glas. Schaute sie an. Vier Sekunden lang. Sie wollte zu dem Fohlen, mit ihrer Hand über sein Fell fahren, und sie wollte auf ihr Zimmer. Mehr nicht. Sie musste jetzt durch diese Tür hindurch. In ihren Augen standen Tränen. In ihrem Bauch brannte eine Wut gegen diese Frau, gegen diese Klinik, die jedem vorgab, wie er sich zu verhalten hatte.
Wenn wir nur genug Kraft gehabt hätten, diesem Rollstuhl einen festen Stoß zu verpassen, wir wären durch die Glastür hindurchgebrochen, bis sie in tausend Teile zersplittert, wir wären auf die Straße gefahren, immer weiter, bis wir den Flughafen erreicht hätten.
Sie sprach den Schlupflidrigen an: »Würden Sie mir bitte die Tür öffnen? Würden Sie mich bitte auf mein Zimmer fahren?« Ihre Stimme war hoch, atemlos, sie klang, als käme sie von einem Tonband, das zu schnell lief.
Der Mann sah unsicher zwischen ihr und der Schwester hin und her. Der Häubchenfrau riss der Geduldsfaden: »Nein! Das dürfen Sie nicht.« Sie spürte den Ärger im Nacken, die Blicke der anderen. Greifbar wie Objekte. Niemand öffnete die Tür.
Durch das Glas sah sie, wie mehrere Schwestern und Ärzte einen Kreis bildeten. Wie es in jedem Stockwerk, auf jedem Flur zu sehen war: Schwestern und Ärzte bildeten einen Kreis. Sie senkte den Kopf für Sekunden, wie um die letzten Kräfte zu sammeln. Ein Schatten hinter dem Glas, da blickte sie auf und sah in die kugelrunden Augen des Pflegers, in dessen Gesicht sich ihre eigene Verzweiflung spiegelte.
*
Das Zimmer Nr. 284 . Süßlicher Geruch in den Vorhängen. Das Fieber tickte in ihr. Verbrannte sie. Wenn ich könnte, würde ich mir die Fingernägel abbeißen. Ein Drehen ihrer Handflächen, ihrer Arme, nach außen, vom Körper wegschlagen. Wie afrikanische Kinder es im Fieberkrampf tun. Sie schlagen ihre Arme ruckartig hin und her. Einem Vogel gleich, der nicht fliegen kann. Diese Malaria nennen sie in Burkina Faso
kono
, Vogelkrankheit. Den Kindern legen sie Federn um den Hals, die sie heilen sollen. Den Müttern sagt man, sie dürften in der Nacht nicht mit ihrem Kind draußen schlafen, unter dem Mondlicht, denn wenn der große Vogel über das Kind hinwegfliege, bekomme es
kono
. Das kranke Kind mit den gestutzten Flügeln verdreht die Augen und stirbt oft, bevor es zu einem Heiler gebracht werden kann. In ein Krankenhaus kann es nicht gebracht werden. Dort kann keiner helfen. Das Kind ist verhext, so glaubt man, weil hier alle es so glauben. Ist es eine kulturelle Frage, ob eine Mutter mit ihrem Kind zum Arzt geht? Ist es eine kulturelle Frage, ob ein Arzt Malaria erkennt?
Den Namen des Vogels spricht niemand aus. Manche sagen,
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