Mala Vita
umher. Von der Bedienung war weit und breit nichts zu sehen. »Könnten Sie das für mich übernehmen?«, fragte er sie und blickte gehetzt auf die geleerten Kaffeetassen.
Rosanna nickte, griff erneut in ihre Handtasche und reichte ihm eine Visitenkarte über den Tisch. »Unser Abendessen holen wir nach. Rufen Sie mich einfach an!«
»Danke«, erwiderte Cardone heiser. »Ich melde mich ganz bestimmt. Versprochen!« Er steckte die Karte in die Jackentasche und erhob sich so überstürzt vom Stuhl, dass dieser beinahe umkippte.
»Arrivederci!«
In höchster Eile tauchte er auf der belebten Straße zwischen den Passanten unter. Nur mühsam gelang es ihm, sich seinen Weg durch flanierende Fußgänger, hastende Geschäftsleute und dahinschlendernde Touristen zu bahnen. Er war wütend auf sich und gleichermaßen zutiefst beunruhigt über Carlos Anruf. Weshalb er unbedingt den Hintereingang zur Wohnung nehmen sollte, wie sein Freund ihm geraten hatte, verstand er nicht. Keinesfalls solle er sich vor der Haustür sehen lassen, das waren Carlos Worte gewesen, bevor er das Telefonat beendet hatte.
Cardone bog in eine ruhige Seitenstraße ein und beschleunigte seine Schritte. Seine Gedanken sprangen hin und her, während er durch die engen, wie ausgestorbenen Gassen hastete. Auf die Begegnung mit Rosanna war jäh ein Schatten gefallen. Vielleicht … Wenn er energischer aufgetreten wäre, hätte aus dem Abend mehr werden können. Je näher er seiner Wohnung kam, desto verführerischer wurde Rosannas Bild. Gleichzeitig wuchs in ihm eine undefinierbare Angst, die sich auf seinem Weg unter Bolognas endlosen Arkadengängen allmählich steigerte. Er rief sich Carlos Stimme ins Gedächtnis zurück. Nie zuvor hatte er ihn so aufgelöst sprechen hören. Wieder drängte sich Rosannas Bild in seine Vorstellung, und mit ihm keimte eine Phantasie, die in verzweifeltes Begehren mündete.
Nur wenige Minuten später eilte Cardone über die Piazza Minghetti, bog in die Via Castiglione ein und erreichte nach ein paar Schritten ein schmales Gässchen. Seine Wohnung lag in einem Hinterhaus der Vicolo Santa Lucia inmitten eines verschachtelten Viertels der Bologneser Altstadt, deren Häuserfassaden in allen Schattierungen von Rostrot bis Sattgelb leuchteten.
Er blieb abrupt stehen, als er den Menschenauflauf sah. Direkt vor dem Eingang seiner Wohnung standen Leute in Gruppen, andere liefen aufgeregt hin und her, riefen sich etwas zu und gestikulierten wild. Er nahm Kabelstränge wahr, die quer über der Straße lagen. Mehrere Kameras waren auf das Haus gerichtet. Zwei starke Scheinwerfer strahlten eine Reporterin an, die in ein Mikrofon sprach und irgendetwas kommentierte. Dann deutete sie auf die oberen Stockwerke. In dem Haus war etwas geschehen, was mit Enrico, Cardones Bruder, zu tun haben musste. Jetzt entdeckte Cardone auch den Übertragungswagen. Er stand quer in der Gasse und versperrte anderen Fahrzeugen den Weg. Dann las er die blaue Aufschrift:
» RAI Uno Televisione«.
Cardone hörte eine laute Männerstimme. Irgendein Idiot würde ihn nicht in die Wohnung lassen, schrie ein junger Mann in Richtung seiner Pressekollegen auf der anderen Straßenseite. Hektisch stürmte er mit dem Mikrofon auf einen der herumstehenden Nachbarn zu, die das Geschehen neugierig verfolgten. Cardones Herz klopfte bis zum Hals. Carlo hatte am Telefon gesagt, es sei etwas mit Enrico geschehen. Und dieses Getümmel vor dem Haus ließ nichts Gutes erwarten. Er griff sich an den Hals, weil ihm ein Kloß die Luft abschnürte. Sein Blut klopfte in den Schläfen. Regungslos verfolgte er im Schutz zweier geparkter Autos die Szenerie. Einer der Reporter hatte ein auskunftsfreudiges Opfer gefunden: Signora Pollina aus dem ersten Stock. Sie redete mit theatralischem Gestus ins Mikrofon, während sich immer mehr Menschen einfanden und gafften.
Cardone machte kehrt und stürmte um den Block, um zum Hintereingang des Hauses zu gelangen. Schwer atmend erreichte er den Durchgang an der Rückseite. Als ob er eine andere Welt betrete, öffnete sich hinter dem jahrhundertealten Torbogen ein ehemaliger Klostergarten, in dem der Geruch von Gewürzen und intensiv duftenden Kräutern die Luft erfüllte. Es war eine Oase, die jeden zum Verweilen einlud, der dieses vergessene Refugium betrat.
Cardone hatte jetzt keinen Blick dafür. Er hetzte zum Hintereingang des Gebäudes, das vermutlich vor hundert Jahren das letzte Mal renoviert worden war. Die Glocken von San Stefano
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