Mala Vita
läuteten zur Spätandacht und dröhnten in Cardones Ohren wie ein böses Omen. Zwei Stufen auf einmal nehmend, stürmte er in den dritten Stock. Mit fliegendem Atem fingerte er in der Hosentasche nach seinen Schlüsseln. Carlo erwartete ihn bereits unter der Tür. In seinen Augen lag verstörte Beklommenheit.
»Was ist passiert?«, keuchte Cardone außer sich vor Besorgnis. »Was, um Gottes willen, ist mit Enrico? Und was wollen die Reporter vor unserem Haus?«
Carlo zog Cardone am Arm über die Türschwelle. »Komm schnell herein! Ich habe die Kerle schon ein paarmal rausgeworfen. Auch das Telefon musste ich aushängen. Es ist der reinste Terror, den die Presse veranstaltet. Sie wollten dich unbedingt interviewen. Ich habe gesagt, dass du nicht in der Stadt bist.«
»Mich interviewen? Aber weshalb?«
Sein Freund deutete in Richtung Wohnzimmer. »Sie bringen es gerade im Fernsehen. Sieh selber, ich kriege es nicht übers Herz …«
Die sensationsgeladene Stimme eines Moderators schallte heraus auf den Flur. Der Name Enrico Cardone fiel. Elektrisiert eilte Roberto ins Wohnzimmer und blieb wie angewurzelt vor dem TV -Gerät stehen. Enrico in Großaufnahme. Nur allmählich begriff Cardone, was sich vor seinen Augen abspielte. Seine Finger gruben sich in die Lehne des vor ihm stehenden Sessels, und sein Magen revoltierte. Dann schlug der Schock wie eine feurige Woge über ihm zusammen und nahm ihm den Atem. Seine Augen schwammen in Tränen.
Carlo stand hilflos neben ihm und legte einen Arm über seine Schulter, als wolle er ihn beschützen. Ein Hund in der Nachbarwohnung schlug an, und kurz darauf drang die schrille Stimme einer keifenden Frau durch die Wände. Während im Haus das Leben brodelte, Kinderlachen und Geschrei der Nachbarn die Luft erfüllte, lief über den Bildschirm eine Videoaufzeichnung von Enricos Ermordung. Mit lähmendem Entsetzen sah Cardone, wie sein Bruder in völlig verdreckter Kleidung aus dem Dunkel ins Objektiv stolperte und auf die Knie fiel. Halb aufgerichtet, mit einer Drahtschlinge um den Hals, griff sich Enrico mit entstellter Fratze an die Kehle. Es quoll ihm rot durch die Finger. Aus dem Hintergrund trat ein schlanker Mann in den Scheinwerferkegel. Unter seinem schwarzen Fedora-Hut kam ein Pferdeschwanz zum Vorschein. Er trug eine Sonnenbrille, eine dicke Goldkette um den Hals und eine glänzende schwarze Lederjacke. Sein jugendliches Gesicht war zu einem entschlossenen Grinsen verzerrt. Mit beiden Händen ergriff er die losen Enden der Würgeschlinge und zog sie mit brutaler Gewalt zu. Ein nicht enden wollender Ton kam aus Enricos Kehle, der nichts Menschliches mehr hatte.
Inmitten Palermos offener Wunde, zwischen umgestürzten Mülltonnen und aufgetürmten Abfällen, zwischen Häuserruinen, Abbruchgebäuden und stinkendem Abfall, dort, wo die Armut und die Wut gärten, dort brach sein Bruder gurgelnd in sich zusammen. Es war die perfide Inszenierung eines Mörders, der für einen kurzen Augenblick hohnvoll triumphierend erst auf den Sterbenden, dann in die Linse der Kamera blickte und in Sekundenschnelle in der nächtlichen Häuserschlucht verschwand.
In Überblendung vom Videoband zur aktuellen Reportage vom Tatort befragte das Reporterteam aufgebrachte Bürger und Passanten nach ihrer Meinung zu dem abscheulichen Verbrechen.
»Was sind das nur für Menschen?«, flüsterte Carlo fassungslos. »Das sind keine Berichterstatter, das sind koprophile Dompteure, die die voyeuristische Gier der Zuschauer mit den Exkrementen einer verrotteten Gesellschaft befriedigen. Diese Fernsehfritzen sind nicht besser als die Mörder!«
Carlo beobachtete besorgt seinen Freund. »Du solltest dir diese Geschmacklosigkeit nicht ansehen, Roberto!«
»Lass mich!«, wehrte Cardone vehement ab.
Wie der Kommentator zu berichten wusste, hatte die Leiche zwei Tage lang unentdeckt im Dreck gelegen. Die Kamera fing herumliegenden Unrat, überquellende Müllcontainer, zerborstene Flaschen und das vollständig ausgeweidete Skelett eines Autos ein, um im fließenden Übergang die Großaufnahme des bis zur Unkenntlichkeit zugerichteten Opfers zu zeigen. Ratten und fortschreitende Verwesung hatten an der Leiche grausige Arbeit geleistet. Die lodernde Flamme, die sich in Cardones Innerem ausbreitete, versetzte ihn in eine tiefe Lethargie.
Die Kamera schwenkte über den Hinterhof. Der Sender bot im Rahmen der Live-Reportage ein abscheuliches Stimmungsbild, fing Palermos schlimmstes Elendsviertel ein, zeigte
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