Mala Vita
will die Stelle sehen, an der Enrico umgebracht worden ist. Ich will wissen, unter welchen Umständen er gestorben ist. Und das wird mir niemand verwehren.«
»Hältst du das für eine gute Idee?«, meinte Carlo skeptisch. »Es macht für dich alles nur noch schlimmer. Was glaubst du in Palermo zu finden? Die Wahrheit etwa? Sie ist nur wichtig, solange sie auch geglaubt wird.«
»Ich bin durchaus in der Lage, zwischen der Wahrheit und der Unwahrheit zu unterscheiden.«
»Traumtänzer! Es gibt hundert Wahrheiten über die gleiche Sache, und die meisten Wahrheiten stehen sich gegenseitig im Wege. Was soll der Unsinn?« Carlo schüttelte missbilligend den Kopf, denn seine Worte schienen den Freund nicht zu erreichen. »Außerdem glaube ich, dass eine Identifizierung des Leichnams nur notwendig ist, wenn die Identität nicht zweifelsfrei feststeht. So wie ich die Sache einschätze, wird man dich während der Ermittlungen nicht zu deinem Bruder lassen.«
»Das ist mir egal. Ich muss wissen, weshalb man Enrico das angetan hat. Ich habe einen Anspruch darauf, dass man mich an Ort und Stelle informiert.«
»Wir können gemeinsam zur hiesigen Questura gehen«, schlug Carlo vor. »Soviel ich weiß, ist für solche Fälle die Kriminalsektion der Carabinieri in der Via del Pratello zuständig. Die Beamten können sich direkt mit den Dienststellen in Palermo in Verbindung setzen. Vielleicht erfährst du auf diesem Wege alles, was du wissen möchtest. Außerdem ist es gut möglich, dass sie dir ein paar Fragen stellen wollen.«
»Ich kann das eine tun, und zum anderen schweigen.« Cardone erhob sich und ging hinüber zu seinem Arbeitsplatz. »Ich weiß nur«, fuhr er mit heiserer Stimme fort, »dass ich Enrico nicht in Sizilien lasse. Er soll in Premeno ruhen, auch wenn ich noch nicht weiß, wie ich das alles bewerkstelligen soll.«
Während er seinen Rechner startete, bat er Carlo: »Suchst du mir die Nummer der Questura heraus? Ich versuche in der Zwischenzeit ein Hotelzimmer in Premeno zu buchen. Ich werde die Kanzlei meines Bruders besuchen.«
»Weshalb?«, fragte Carlo überrascht.
»Wer die Gegenwart verstehen will, muss in die Vergangenheit schauen. Die Partner meines Bruders sollen mir sagen, wer mein Bruder wirklich war.«
[home]
Livio d’Aventura
I n der Questura an der Via Agostino Catalano mitten im Herzen Palermos herrschte unerträgliche Hitze, obwohl die Sonne schon vor mehr als einer Stunde untergegangen war. Im dritten Stock des Dienstgebäudes der Spezialeinheit für organisierte Kriminalität, die in unmittelbarer Nähe zu den Slums des Albergheria-Viertels untergebracht war, herrschte gespannte Ruhe. Neonröhren an den Decken tauchten die Gänge in ein aseptisches Licht. Zwei Putzfrauen wischten den Granitboden des Korridors, während einige Uniformierte neben einem der Büros gelangweilt an der Wand lehnten und trotz des Verbotes rauchten. Das mit einer Aluminiumfassung umrahmte Schild an der Tür am Ende des Ganges trug die Aufschrift: »Direzione Investigativa Antimafia – Questore – Sandro Minetti«.
Durch die Tür drangen erregte Stimmen. Es war nicht zu überhören, dass zwei Männer lautstark diskutierten, während eine dritte Person dazwischenredete.
»Halte doch deinen Mund, Emilio!«, schnauzte d’Aventura seinen Assistenten an und wandte sich wieder seinem Gesprächspartner zu. Der hünenhafte Comandante im zerknitterten Sommeranzug stand angriffslustig vor dem Schreibtisch und sah seinen Vorgesetzten wütend an. Seine beiden Pranken hatte er auf Minettis polierte Schreibtischplatte gestemmt, und es schien fast, als wolle er ihm an den Kragen gehen.
Questore Minetti hatte wenige Minuten zuvor die Sitzung der Führungskräfte beendet, in der er seinen Mitarbeitern die Notwendigkeit verbesserter Arbeits- und Leistungsmotivation vor Augen geführt und im Zusammenhang mit dem brisanten Mordfall Cardone besonderen Einsatz gefordert hatte. Comandante d’Aventura war mit seinem Assistenten Commissario Emilio Venaro geblieben, um, wie er sich ausdrückte, Unstimmigkeiten mit seinem neuen Vorgesetzten zu klären. Jetzt hatte er sich in Rage geredet.
»Oberst Pallardo hat mich als leitenden Ermittler der Sonderkommission eingesetzt«, sagte er kategorisch, »und mir alle hierfür notwendigen Kompetenzen übertragen. Es ist allein meine Sache, wann ich wen und weswegen verhafte, verhöre oder nur zu einem Gespräch bitte.« Sein Blick hatte sich in dem Minettis festgebissen, und man sah ihm
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