Mala Vita
Zutritt ins gerichtsmedizinische Institut war ihm kategorisch verweigert worden. Er könne seinen Bruder sehen, wenn die Leiche behördlicherseits freigegeben wurde, wann immer das sein mochte. Auch ein hoher Carabiniereoffizier in der Questura war nicht bereit gewesen, ihm nähere Auskunft über die Mordtat zu geben. Man stecke mitten in der Ermittlungsarbeit, und es bestehe strikte Nachrichtensperre. Palermo erwies sich für ihn als eine Mauer, an der seine Fragen und seine Trauer wirkungslos abprallten.
Zutiefst schockiert hatte er in der Via Albergheria an dem von den Carabinieri immer noch abgesperrten Tatort eine blutrote Rose abgelegt, die er auf dem Ballarò gekauft hatte. Das war das Einzige, was er in Palermo für Enrico hatte tun können. Wütend und frustriert war er wieder nach Bologna zurückgeflogen. Und bei der Ankunft hatte er sich spontan entschieden, ins Auto zu steigen und nach Premeno zu fahren. Er hoffte, wenigstens in der Kanzlei seines Bruders ein paar Auskünfte zu erhalten.
Mit seinem Heimatdorf verband ihn nichts mehr. Er hatte in Premeno eine endlos langweilige Kindheit verbracht, war in einer Klosterschule ganz nach dem Leitbild der italienischen Elite erzogen worden und hatte in asketischer Umgebung eine strenge Erziehung erfahren. Trotzdem hatte er sich nie dem harten Diktat der Lehrer gebeugt und galt deshalb als schwarzes Schaf, auch in der Familie. Die Beendigung des Gymnasiums mit der
maturità
erschien ihm wie eine Befreiung aus einem beengenden Gefängnis. Er studierte in Bologna Literatur, arbeitete nach seinem Examen einige Jahre bei einem Verlag und wandte sich danach der Schriftstellerei zu. Seine Eltern und alle seine Verwandten hielten ihn für verrückt, als er ankündigte, in Zukunft Bücher schreiben zu wollen. Keiner seiner Freunde und Bekannten wollte begreifen, dass Schreiben für ihn die Erfüllung war. Seine Familie wandte sich von ihm ab, als er mit seinem Vorhaben Ernst machte und ständig unter Geldnot litt.
Er liebte sein Leben in Bologna, denn diese Stadt war für ihn nicht nur ein Ort, an dem er arbeiten wollte. Die Universität lockte seit jeher nicht nur Studenten aus allen Nationen an. Hier lebten Päpste und Herrscher, Berühmtheiten wie Thomas Becket, Dante, Boccaccio, Petrarca und Copernicus, die sich dem Flair und der Schönheit der Stadt nicht entziehen konnten. Endlose Lauben- und Bogengänge, harmonische Arkaden aus der Renaissance und dem Barock boten eine verführerisch schöne Szenerie, die er niemals mehr missen wollte. Ja, er lebte in einer aufregenden Stadt, direkt im mittelalterlichen Kern, dort, wo sich Kunst, Wissenschaft und Reichtum seit mehr als einem Jahrtausend begegneten. Trotz des wenigen Geldes, das er mit Berichten und Zeitungsartikeln nebenher verdiente, war er glücklich, und er fühlte sich weitgehend unabhängig, auch wenn er sich stets gerade über Wasser halten konnte.
Cardone atmete tief durch und stemmte sich gegen die schwere Eichentür, die sich mit durchdringendem Knarzen öffnete. Im Treppenhaus schlug ihm angenehme Kühle entgegen. Die großzügig geschwungene Marmortreppe mit den geschmiedeten Geländern, die feinen Mosaiken im Aufgang, der verspielte Stuck an den Decken, sie zeugten von längst vergangener Gediegenheit.
Die morbide Stimmung und der undefinierbare muffige Geruch erinnerten ihn an Verfall und Krankheit, erinnerten ihn plötzlich an die Fernsehbilder aus Palermo. Ein stumpfes Messingschild im ersten Stock gab Besuchern ganz unprätentiös bekannt, wer hier residierte. »Senna, Cardone & Pantrini, Ufficio Legale«.
Gerade wollte Cardone die Klingel betätigen, als er Schritte hörte und die Tür zur Kanzlei geöffnet wurde. Paolo Senna stand mit abweisender Miene vor ihm.
»
Buongiorno,
Roberto. Ich habe dich nicht erwartet«, begrüßte der drahtige Mann den Besucher und machte eine knappe, einladende Geste. »Mein Beileid. Scheußliche Angelegenheit! Ich kann nachempfinden, wie du dich fühlen musst …«
Cardone nickte und trat schweigend ein. Für einen Augenblick standen sich die beiden Männer gegenüber und schienen nicht so recht zu wissen, was sie sagen sollten. Cardone sah sich neugierig um. Eine unerklärlich abweisende Atmosphäre umgab ihn plötzlich, eine Distanziertheit, mit der er nicht gerechnet hatte und die ihn aufwühlte.
»Du warst lange nicht mehr hier«, bemerkte Senna, und es schien Cardone, als bemühe sich der Anwalt, eine Konversation in Gang zu bringen.
»Es war auch
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