Mala Vita
dreißig Jahren war die Schusterwerkstatt immer noch das gleiche düstere Loch, aus dem der Geruch von gegerbtem Leder, Schuhleim und modrigem Schimmel kroch.
Cardone nickte dem Alten einen Gruß zu und bog in die Via Santa Magdalena ein. Über seinem Kopf flatterte frisch gewaschene Wäsche. Er lächelte, als er einen Blick durchs trübe Schaufenster des Ladens warf, den Signora Petrelli seit einer kleinen Ewigkeit betrieb. Es schien ihm, als habe sie die Dekoration seit Gründung des Geschäftes nie mehr geändert. Auch heute noch konnte man bei ihr Blumenvasen, Lockenwickler, Nachthemden, Einweckgummis, Büstenhalter und so nützliche Dinge wie Sechskantschrauben oder Taschenlampen erstehen. Gleich daneben lag die Bäckerei von Puzzano und gegenüber Silvio Galettas Metzgerei. Die beiden Kaufleute standen auf der Gasse vor ihren Ladentüren und unterhielten sich, satte Zufriedenheit in den Mienen. Ungesehen war schon vor zwanzig Jahren niemand an ihnen vorbeigekommen, selbst wenn es regnete.
»
Salve,
Roberto!«, murmelte Puzzano, der den dunkelhaarigen, großgewachsenen Mann entdeckte. In der Stimme des beleibten Bäckers lag voyeuristische Neugier. »Mein Beileid! Eine furchtbare Sache! Ich hab es vorgestern im Fernsehen mitgekriegt. Einfach furchtbar! Es muss ein schwerer Schlag für dich sein.«
Cardones feine Gesichtszüge wirkten angespannt. »Ja, furchtbar …«, erwiderte er knapp und beschleunigte seinen Schritt.
»Wie kann man nur mit einer solchen Grausamkeit leben«, bemerkte Galetta mitfühlend. Cardone winkte nur ab, ging zügig weiter und presste die Lippen zusammen. Keinesfalls wollte er sich ein Gespräch aufzwingen lassen, schon gar nicht auf der Straße, wo sich in Windeseile viele Neugierige einfinden würden.
»Traurig! Wenn man sich nach Jahren wieder begegnet, ist der Anlass entweder ein Todesfall oder eine Hochzeit«, brummelte Puzzano seinem Nachbarn zu. »In dessen Haut möchte ich nicht stecken.«
»Wo du recht hast, hast du recht«, pflichtete ihm Galetta bei und wandte sich an eine Kundin, die mit einer prallgefüllten Einkaufstasche aus der Ladentür trat.
»Grazie e arrivederci
, s
ignora.«
Cardone hatte die mit groben Kieseln gepflasterte Gasse hinter sich gelassen. Der Duft von Rosmarin und Lavendel durchdrang die Luft, und der Besucher atmete ihn tief ein. Er verlangsamte seine Schritte und blieb vor einem ehemals herrschaftlichen Haus stehen. Wie ein kleiner Palazzo stand das Anwesen auf einer Anhöhe, umgeben von einem weitläufigen Park. Das üppige Blättermeer alter Glyzinien rankte sich entlang der Fassade, überwucherte Simse und Traufen und gab dem Gebäude einen typisch mediterranen Charme. Die Sonne hatte über die Jahre die grau getünchte Front porös werden lassen. An vielen Stellen bröckelte der Putz und gab den Blick auf grob zusammengefügte Bruchsteine frei.
Oft hatte Cardone seinen Bruder in der Kanzlei nicht besucht. Meist waren sie in der kleinen Cafébar neben der Kapelle Sant’ Andrea Apostolo verabredet. Er erinnerte sich an sein letztes Treffen mit Enrico. Es lag viele Jahre zurück. Völlig überraschend hatte Enrico ihn gebeten, nicht mehr in die Kanzlei zu kommen, auch nicht nach Premeno. Einen Grund hatte er nicht genannt, und Roberto hatte auch nicht gefragt. Es wäre sinnlos gewesen. Der Ton, in dem sein Bruder ihn gebeten hatte, sich künftig unten am See in Baveno oder Stresa zu treffen, hatte ihn abgehalten, tiefer in Enrico zu dringen. Der hatte ihn spüren lassen, dass er sich wegen ihm schämte, wegen ihm und seiner armseligen Schriftstellerexistenz, wie er sich einmal ausdrückte. Aber an jenem Tag sprach aus seiner Stimme nicht Scham, sondern etwas Beunruhigendes, eine diffuse Angst, die für Roberto nicht greifbar gewesen war. Dennoch, Enrico hatte ihn damit zutiefst verletzt. Auch wenn Roberto ihm nie verzeihen konnte, er respektierte den Wunsch seines älteren Bruders. Umso mehr litt er nun darunter, dass er ihn nicht noch einmal vor seinem Tod hatte sehen können. Nicht einmal in Palermo hatte man ihm die Möglichkeit gegeben, von Enrico würdevoll Abschied zu nehmen.
Abgewimmelt hatte man ihn. Die Polizeibeamten und auch der Staatsanwalt Ponti hatten ihn mit entwürdigendem Misstrauen behandelt.
Una faccia, una razza
, sagt man in Italien – ein Gesicht, eine Rasse –, wenn man alle Mitglieder einer Familie über einen Kamm scheren möchte, und dementsprechend hatte man ihn mit feindlichem Argwohn abgefertigt. Auch der
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