Malavita: Eine Mafia-Komödie (German Edition)
ließ sie sich aufs Sofa fallen und schloss die Augen. Sie war auf der anderen Seite des Spiegels gewesen. Das bewegte sie noch immer. Auf der Rückfahrt hatte sie immerzu an den Laden in Newark denken müssen, den die Heilsarmee angemietet hatte. Hier trafen sich jeden Tag die Obdachlosen. Stundenlang saßen sie auf Holzbänken, hierhergetrieben von der Winterkälte oder der Angst vor dem Leben auf der Straße oder von der lähmenden Langeweile. Oder vom Hunger. Manchmal warf sie durch die dreckigen Fensterscheiben einen Blick in dieses Aquarium des Elends. Manchmal hielt sie sich die Nase zu bei der Vorstellung des Gestanks drinnen. Manchmal hatte sie Lust, den Laden zu betreten und dem Leid direkt ins Auge zu sehen. Was sie daran hinderte, war nicht die Angst vor dieser Begegnung, sondern das ungute Gefühl, dass sie viel tiefer abgestürzt war als diese Männer und Frauen mit ihren zerzausten Haaren. Die hatten sich nämlich noch eine Form von Würde bewahrt. Sie nicht. Wer die Lebensweise und die Werte eines Giovanni Manzoni akzeptiert hatte, besaß keine Selbstachtung mehr. Wenn die Obdachlosen das geahnt hätten, hätten sie der feinen Dame im Pelzmantel vielleicht ein Almosen zugesteckt.
*
Nach den Schlusstiteln betrat Lemercier die Bühne und griff sich das Mikrofon, um ein paar Anmerkungen zu dem Film und dem Regisseur zu machen. Bevor er den Diskussionswilligen das Wort erteilte, wandte er sich an Fred und bat ihn auf die Bühne. Das Publikum klatschte, um ihm Mut zu machen, und schon stellte Alain, wie nicht anders zu erwarten, an ihn die erste Frage.
»Wenn man in New York lebt, spürt man da die Gegenwart der Mafia, so wie das Kino uns das glauben machen lässt?«
Reflexartig griff Tom zu seinem Pistolenhalfter.
»Die Gegenwart der Mafia?«, wiederholte Fred.
Fred verstand die Frage nicht recht, sie war zu abstrakt. Als wenn jemand ihn fragte, ob er den Himmel über sich und die Erde unter sich spürte. Stumm, mit dem Mikro in der Hand, stand er da und kam sich lächerlich vor. Er flüchtete in ein nachdenkliches Schweigen.
Die Gegenwart der Mafia …
Alain machte die Sprachbarriere für Freds Schweigen verantwortlich und kam dem vermeintlich Schüchternen zu Hilfe.
»Die drei Gangster im Film – kann man solchen Typen auf der Straße begegnen?«
Kann man solchen Typen auf der Straße begegnen?
Die Frage ließ Fred einen kurzen Blick in den Abgrund werfen, der ihn für alle Zeiten vom Rest der Menschheit trennte, und zwar von dem Teil, der den rechten Weg eingeschlagen hatte. Die Faszination, die ein Gangster auf einen ehrenwerten Bürger ausübte, war die einer Jahrmarktsattraktion. Mehr nicht.
Quintiliani hätte sich beinahe zu Wort gemeldet. Nicht um Freds Maskerade ein Ende zu bereiten, sondern um dem armen Kerl auf der Bühne zu helfen. Jaja, allein in der Nacht auf der Veranda zu sitzen und seine Wahrheit mit einer alten mechanischen Schreibmaschine zu teilen, das war leicht … Aber vor fünfzig Leuten auf einer Bühne zu stehen und mit dem Mikro in der Hand von seinem Leben als Gangster zu erzählen, das war, als zerrte man ihn wieder in den Gerichtssaal. Fred glich einem kleinen Jungen, der voller Ungeduld mit den Füßen stampft, weil er vor der Klasse ein Gedicht vortragen will, und dann fällt ihm plötzlich vor der Tafel keine einzige Zeile mehr ein.
Es wurde getuschelt, Verlegenheit machte sich breit. Fred suchte nach Worten, die die Situation entspannten. Kann man solchen Typen auf der Straße begegnen? Was antwortete man auf eine solch harmlose, aber in Wirklichkeit brutale Frage? Und noch immer starrten ihn die Zuschauer an. Beinahe war er versucht, zu lügen, zu behaupten, man sähe sie nicht, diese Kriminellen. Sie seien wie Chamäleons, nicht vom Hintergrund zu unterscheiden. Oder noch besser, Drehbuchautoren hätten sie erfunden, wie Zombies und Vampire. Danach könnte er sich in Ruhe verabschieden und auf seine Veranda flüchten, die er danach nie mehr verlassen würde. Doch es war gerade diese Wahrheit, die er beim Schreiben seiner Memoiren auf der Veranda suchte, die ihn zwang hierzubleiben.
»Zu Beginn des Films, in der ersten Barszene, geht ein Typ durchs Bild mit einem Glas in der Hand. Er trägt eine graue Weste, darunter ein gelbes Hemd mit hochgekrempelten Ärmeln. Sein Name wird nicht genannt. Diesen Typen gab es wirklich. Er hieß Vinnie Caprese, man konnte ihn täglich in der Hester Street sehen, und zwar im Caffè Trombetta, einem Coffeeshop. Jeden Morgen
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