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Malefizkrott

Malefizkrott

Titel: Malefizkrott Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christine Lehmann
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Kindern ständig was am Zeuge flicken. Sie haben die klügsten Kinder und am meisten an ihnen auszusetzen. Mir scheint, die Wertschätzung der Kinder nimmt umgekehrt zum Bildungsgrad der Eltern ab. Meine Mutter hätte mich gegen jeden Verdacht verteidigt, ich sei ein bisschen doof, auch wenn sie für mich nicht mehr vorgesehen hatte als Fremdsprachensekretärin. Damit ich es mal besser hätte als sie.
    Weil vor dem Hotel ein Polizeiwagen stand, verließen wir es über einen Hinterausgang, eilten zum Bahnhof und stiegen in den Interregio nach Aulendorf. Aus den Me dien war mir der Ort nur bekannt als die höchstverschuldete Stadt Baden-Württembergs, die sich an einem Krankenhaus und einem Hallenbad verhoben hatte, aber sie war vor allem ein riesenhafter Rangierbahnhof, mit einem ordentlichen Ortskern, in dem es Drogeriemärkte, Kleiderläden und Sportgeschäfte gab. So konnten wir uns mit dem Nötigsten und weniger Nötigen versorgen wie Unterwäsche, Waschzeug, Rucksäcke und Wanderschuhe. Lola war ganz gierig darauf, zu tingeln, wie sie das nann te. »Ich bin noch nie einfach so losgelaufen. Ohne Plan.«
    Sie hatte so viel noch nicht gemacht. Stattdessen hatte sie ein Buch geschrieben. Vermutlich aus reiner Langeweile.
    Wir fuhren weiter über Wangen im Allgäu nach Lindau. Als wir mit der Sonne im Rücken die Promenade entlangspazierten, rief Christoph an und fluchte. »Wir tingeln«, erklärte ich ihm. »Die Polizei braucht mich doch auch sonst nicht. Übrigens, zeigt dem Buchhändler in Balingen und dem von der Ostend-Buchhandlung mal das Bild von dem Mann im Blouson. Und frag doch mal Oma Scheible – du weißt schon, mein Hausdrache –, ob der Kerl aussieht wie irgendein Horst, dem der Durs Ursprung einst das Mädchen ausgespannt hat.«
    Direkt am See war alles ausgebucht, aber weiter oben bekamen wir ein Zimmer in einem von Holz und Mittelalter krachenden Hotel. Auf ihrem iPhone hatte Lola die Sozialnetzwerke installiert. Jetzt setzte sie den ersten Hint. Auf Facebook platzierten wir ein nicht sonderlich aussagekräftiges Fotos von Lindau, und Lola fragte ihre Freundinnen: »Sonne, Wasser, aber wo sind die Möwen?«
    In den folgenden Tagen fügten wir dem abendlichen Rätselfoto in Facebook vormittags und nachmittags auch noch einen Tweet hinzu. Er lautete, beispielsweise nach einem Besuch des Schulmuseums von Friedrichshafen: »Ich werde meinen Computer rauswerfen und nur noch auf der Schiefertafel schreiben.«
    Während sich die Facebookbeteiligung in Grenzen hielt, denn vor allem Lolas Schulfreundinnen waren verreist, hatten wir auf Twitter bald eine wachsende Gefolgschaft.
    Wir flochten bei einem Tettnanger Hopfenbauern ei nen Tag lang Kränze für die Wochenmärkte, während der Hopfen eingefahren wurde. In Hungersberg bei Brochenzell hatten wir Blasen an den Füßen und bekamen von der Frau des Pferdewirts Salbe, Pflaster, Eierlikör und Kaffee.
    Am ersten Tag präsentierte Lola mir ihre gesamte Gelehrsamkeit, am zweiten und dritten ihre Familientragödie. Von der Einsamkeit am Schreibtisch kamen wir auf überbehütende Väter, die vom Vagabundenleben träumten, und endeten bei der emotionalen Ödnis, die sie früher – wie sie behauptete – gezwungen hatte, mit dem Rasiermesser an sich herumzuspielen, und sie heute an den Computer trieb, Worte quälen. »Was sollte ich sonst tun? Das kann ich halt.« Zum Vater kehrten wir immer wieder zurück. Er hatte ihr das Buch von Matthias Kern besorgt. »Ich glaube manchmal, er wollte mich daran hindern, dass ich das Buch schreibe. Dazu hast du sowieso nicht genug Ausdauer, hat er gesagt. Und als er merkte, dass ich es wirklich tue, hat er mir ständig was angebracht. Lies mal, schau mal! Schreiben heißt erst mal lesen. Total nicht mein Ding! Natürlich ist er stolz auf mich und den Erfolg, aber es … es macht ihn auch fertig. Er hat’s wohl selber mal versucht und ist nirgends angekommen. Du hast recht, ich sehe zu viel. Meine Eltern können mir nichts mehr vormachen. Meine Mutter hat eine Affäre mit einem Kollegen, und mein Vater … na ja, du hast schon recht, er geht in solche Studios.« Auf einmal war sie wortscheu und redete bürgerlich. Sie sagte auch nicht mehr Pappo.
    Dann begann es zu regnen und wir liefen stundenlang schweigend. Wenn die Sonne mal schien, drehte sich unsere Konversation um so hochkomplexe Fragen wie: »Sag ehrlich. Ich habe einen voll fetten Arsch, oder?«
    »Du hast einen schönen Arsch, lass dir das gesagt sein von einer Frau

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