Malefizkrott
sei er zum Kummer seiner Eltern zu den langhaarigen Linken gegangen. Einem Horst habe er die Freundin ausgespannt und ihr ein Kind gemacht, den Ruben. Und nun habe die Blase von Horst dem Durs den Laden abgefa ckelt. So ganz kohärent war mir das nicht erschienen. Welcher Horst kultivierte über vierzig Jahre einen solchen Brass, dass er, kaum tauchte eine junge Autorin am Altherrensternenhimmel auf, Feuer legte, den Schwerenöter er schoss und anschließend auf die mutmaßliche junge Lite raturgespielin feuerte? Was konnte denn Lola dafür, dass sie bei Ursprung lesen durfte? Und genau diese Fra ge hatte sie sich vorhin auch gestellt. Was hatte sie mit die sen alten Geschichten zu tun?
Nichts!
»Und du hast alles gefilmt?«, erkundigte sie sich mit leuchtenden Augen. »Dann könnte man vielleicht den sehen, der geschossen hat? Wenn es ihn gibt.«
»Leider habe ich woanders gestanden als du.«
»Also müsste ich ihn gesehen haben, nicht aber deine Kameras.«
Aber wir hatten ja Zeit. Die Fahrt von Stuttgart nach München dauerte deshalb so lange, weil jeder Zug, auch der ICE, den Albanstieg bewältigen und in Wäldern die Geislinger Steige hinaufschnaufen musste. Während die Dämmerung sich übers Filstal legte und der Zug sich quälte, sichteten Lola und ich kilometerlange Bilderfolgen, unterbrochen nur von einer Zugbegleiterin, die uns ziemlich viel Geld abnahm.
»Übrigens«, sagte ich nebenbei, »da gibt es einen, Matthias Kern, kennst du den?«
»Hast du den im Verdacht?«
»Kennst du ihn denn?«
»Nicht persönlich.«
»Aber sein Buch.«
»Ich weiß nicht, ich glaube nicht, nein. Aber jemand hat mir davon erzählt, weil er anscheinend ähnliche Sa chen macht wie ich. Ja, jetzt weiß ich es wieder, wer es mir erzählt hat, mein Deutschlehrer. Der kann gar nicht damit umgehen, dass ich ein Buch veröffentlicht habe. Ständig kommt er und stellt Fragen, ob ich den oder den kennte. Das nervt voll.«
»Es wird bald noch viel nerviger, Lola. Matthias Kern behauptet, belegen zu können, dass du weite Teile seines Buchs abgeschrieben hast.«
Lola hob ruckartig Kinn und Kopf. »Glaubst du das auch?«
»Ich glaube es nicht, ich weiß es. Und nicht nur von ihm hast du abgeschrieben.«
Sie schnaubte. »Dreck auch! Ich habe nie – nie, nie – behauptet, ich hätte irgendwas erfunden. Ich habe schon immer gesagt, ich habe nichts selber geschrieben. Ich bin Wortesammlerin, Kruzitürken! Keine Märchenerzählerin. Ich schwärme aus, ich finde, ich sauge auf, ordne an. Ich dirigiere das Geschwafel, bis es offenbart, wie kaputt es ist, wie tot es ist. Und wenn diese alten Bücherböcke alle behaupten, dass das, was ich verfasst habe, für meine Generation steht, dann müssen sie mir auch zugestehen, dass es so entstanden ist, wie es meiner Generation gemäß ist. Diese ganzen Urheberrechtsexzesse sind aufgehoben durch das Recht zur Kopie und Transformation. Nein, Lisa, es ist nichts von mir. Das gibt es gar nicht, dass heute noch was geschrieben wird, was von einem selber ist. Es ist alles Zitat. Wenn ich sage, ›schau’mer mal‹, ist das Zitat {22} . Mit meinem Leben hat das alles nichts zu tun.«
»Das stimmt so auch nicht, Lola. Die Familienverhältnisse deiner Heldin ähneln deinen.«
»Mir ist halt nichts anderes eingefallen.«
Zu jung, um irgendwas vom Leben und seinen Verhältnissen zu kennen, was nicht aus ihrer eigenen Familie stammt. Thomas Mann veröffentlichte die Buddenbrooks als 26-Jähriger, auch das eine Familiengeschichte nah an der seinen. Halb Lübeck soll beleidigt gewesen sein. Und auch er soll, wie mir Matthias Kern erklärt hatte, bedenkenlos Zeitungsmeldungen und Lexikonartikel verwurstet haben. Das ist halt die Schwäche von Junggenies, dass sie was sagen wollen, aber nichts zu erzählen haben und sich deshalb in der eigenen Biografie und fremden Bü chern bedienen.
»Und es spielt auch keine Rolle, ob meine Heldin eine Schauspielerin zur Mutter hat oder der Großvater sich erhängt hat!«, setzte Lola hinzu. »Das ist nur Scheinverankerung im Sozialen. Es ist egal, verstehst du.«
»Vielleicht nicht …« Ein vager Gedanke stieg mir zu Kopf.
Die Gleise pfiffen leise, der ICE hatte die Albhöhe er reicht und sauste durch die frisch gefallene Nacht.
»Das interessiert niemanden! Ich bin doch total unwichtig.«
»Deine dir unbekannte Großmutter könnte sich in der Geschichte wiedererkannt haben.«
Eine durchaus heikle Angelegenheit nämlich. Auch wenn der Großvater in Lolas
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