Malefizkrott
Polizei auf Deeskalation. Oft steht sie sogar auf der Seite der Demonstranten. In Stuttgart ging das ja auch lange Zeit gut. Demonstranten und Polizisten waren Freunde und hatten Verständnis füreinander. Bis zum Rückfall in staatliche Machtdemonstration. Ich dachte, ich sehe die alten Bilder wieder. Beängstigend! Und Sie sind also Staatsanwalt geworden. Wirtschaftsstrafsachen. Da gibt es sicher viel zu tun.«
Richard schaute sie an. Im Schweigen als Ausdruck der Selbstsicherheit von Macht war er ebenso gut wie eine Ministerin. Die Frau, die seine erste große Liebe gewesen war, erwiderte seinen Blick unbeeindruckt und abschätzend, aber ahnend, dass der Mann, der da saß, zum Kern vordringen wollte und würde.
»Ja«, sagte sie. »Man hat vor unseren Augen Benno Ohnesorg erschossen. Und Sie … entschuldigen Sie, ich weiß nicht mehr, ob wir uns damals geduzt haben, die Juristen waren da immer etwas eigen. Es ist so lange her.«
Richard nahm das kleine Signal ihrer rückwärts projizierten Gleichgültigkeit regungslos hin.
»Dieses Buch hat uns das Leben gerettet, nicht wahr?«
Richard beugte sich, plötzlich wachsam, ein wenig in seinem Freischwinger vor. »Sie haben vermutlich gehört, dass gegen den damaligen Todesschützen die Ermittlun gen wieder aufgenommen werden, diesmal wegen Mor des und Landesverrats.«
Die Kulturstaatsministerin nickte völlig unbefangen. »Das ist auch gut so.«
Richard beugte sich noch eine Idee vor. »Ich habe Sie um ein Treffen gebeten, um in Erfahrung zu bringen, ob Sie vorhaben, eine Aussage zu machen. Sie haben gesehen, wie der Beschuldigte erst auf mich und dann auf Ohnesorg geschossen hat. Ich hatte zuvor gehört, wie er drohte, er werde einen von uns kaltmachen in dieser Nacht. Beide Aussagen zusammen würden einen Tatvorsatz als gegeben erscheinen lassen.« {24}
Marianne Brandel beeilte sich nicht mit ihrer Antwort. »Oh«, seufzte sie, »das ist wirklich lange her. Ich erinne re mich kaum noch an die Details. Meine Enkelkinder ha ben mich auch schon gefragt, aber ich kann gar nicht mehr viel erzählen. Ich sehe nur noch diesen armen Kerl in seinem grünen Hemd auf dem Boden liegen …«
»Es war rot, das Hemd!«, entfuhr es mir.
»Sehen Sie«, rief Marianne Brandel, »nicht einmal das habe ich richtig behalten. Rot, grün! Erinnerungen kön nen einem fürchterliche Streiche spielen.«
Richard lächelte. »Gut. Dann bin ich informiert. Tja, das war es auch schon. Vielen Dank, dass Sie Zeit für mich erübrigen konnten.« Er machte Anstalten, sich zu erheben.
Marianne Brandel lächelte verblüfft. »Eine Frage hätte ich aber schon noch … Rocky.«
Richard ließ sich in den Sitz zurücksinken und wirkte auf einmal gemütlich. »Bitte, nur frei heraus!«
Sie lächelte, wandte sich aber erst an mich. »Ich weiß, es ist schrecklich unhöflich, Frau Nerz, aber würde es Ihnen etwas ausmachen, mich einen Moment mit Ihrem Lebensgefährten allein zu lassen?«
Ich wollte schon empört meinen Schnabel aufreißen, da griff Richard ein: »Natürlich wird Lisa uns alleine las sen, Marie. Kein Problem. Aber es könnte Sie vielleicht doch interessieren, was sie bezüglich dieses Buchs herausgefunden hat.«
Die Staatsministerin lehnte sich zurück, schaute auf die Armbanduhr und verschränkte die Arme vor dem Leib.
Ich verschluckte mich und hustete. »Äh … das Buch … also … Sie haben …« Ich nahm einen Schluck Wasser und fing neu an. »Frau Staatsministerin, ich habe heraus gefunden, dass Sie dieses Buch, das hier liegt, als Studen tin in der Buchbinderei Ihres Großvaters neu gebunden ha ben. Dabei haben Sie unter anderem Texte der Kommune 1 hinzugefügt, die Sie auf der alten Erika im Büro Ihres Großvaters getippt haben.«
Sie zog erstaunt die Brauen hoch.
Ich schlug das Buch auf. »Und hier, dieser Text ist der erstaunlichste. Er hätte zu diesem Zeitpunkt eigentlich noch nicht existieren dürfen. Er spielte erst drei Jahre später eine wichtige Rolle. Außerdem, sehen Sie diese breiigen Buchstaben? Sie sind doppelt angeschlagen. Schreibt man sie der Reihe nach auf, kommt ein Dutzend Namen heraus, zum Teil heute noch sehr bekannte Namen.«
Jetzt wurde die Dame wirklich ernst.
»Manuela Kantor hat sie entdeckt. Erinnern Sie sich? Sie war Lehrmädchen bei Ihrem Großvater.«
Die Kulturstaatsministerin richtete sich auf. »Sie haben sich ja viel Mühe gemacht, allerlei herauszufinden. Aber das ist alles sehr lange her. Das sind alles sehr alte Geschichten
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