Malefizkrott
von 1989, wir waren das Volk. »Denkt an Struve vom Mannheimer Journal oder an den armen Schubart, der in Asperg verreckte«, rief ein Gewerkschafter vom Lastwagen herab. »Menschen, die für euch und die Pressefreiheit eingetreten sind und für die Bürgerfreiheiten, die wir heute nicht mehr angemessen verteidigen.«
Und wer sind Struve und Schubart, Heilandsack! {21}
»Und wenn ihr wissen wollt, wie die RAF entstanden ist, ist es diese Arroganz der Macht, die Jugendliche zur Weißglut und Ohnmacht treibt. Ich empfinde diese Wut auch. Wegen meiner Missachtung als Bürger! Da wünschte ich mir einen Danton und Wohlfahrtsausschuss. Bürger Mappus, was hast du für die Revolution getan. Oder nur ein Mannheimer Journal , bei dem die Journalisten gefragt werden: Was ist Ihre Tendenz?«
Der Schauspieler Walter Sittler, ein romantischer Liebhaber, der auch schon Marlies Schrader in der Rolle als verhuschte Kinderbuchhändlerin geküsst hatte, rief zum Schwabenstreich auf, »drei, zwo, eins, null«, und ein großes Getriller und Getröte hub an.
›»Der wackre Schwabe forcht sich nit«, murmelte Michel Schrader dicht neben mir, »und zur Rechten sieht man wie zur Linken, einen halben Türken her untersinken.‹ Das ist der Schwabenstreich, Uhland.«
Danach nahm Marlies Schrader ihre Tochter und ihren Mann an den Händen, begab sich hinauf auf die Lastwagenbühne und hielt eine Rede, die uns tröstete und uns die Siegessicherheit der Gerechten einflößte. Wir rückten zusammen, und am Bauzaun hing grün das Transparent »Platz des Himmlischen Friedens«.
»Und stellvertretend für die Jugend dieser Stadt«, sag te Marlies Schrader schließlich mit ihrer tönenden Stimme, »möchte meine Tochter Ihnen etwas sagen. Lola Schra der, unsere junge Autorin! Komm, Herzchen. Nur Mut, die beißen nicht.«
Man lachte freundlich.
Lola griff tief in ihre Postman-Tasche und entfaltete ein Blatt. Dann suchte sie wie alle Ungeübten das Mikro mit dem Mund und ihre ersten Worte knallten aus den Lautsprechern. »Ich bin ein Kind des Nuller-Geists«, fing sie grußlos an, in sich gekehrt, wie jedes Mal, wenn sie zu vielen sprechen musste.
»Unter der Ohnmacht liegt die Freiheit zu sterben. Ich bin dabei. Erwartet von mir keine Begründung. Nur Fragen. Deshalb möchte ich was vorlesen. ›Was …‹« Sie hob den Zettel in Mikrohöhe. Ihr Gesicht verschwand dahinter, jedenfalls aus meiner Perspektive gesehen. »›Was sind das für Zeiten, wo ein Gespräch über Bäume fast ein Verbrechen ist …‹«, sagte sie mit ihrer zuweilen so überraschend reifen Stimme. Kleine Schauer kringelten sich zwischen meinen Schulterblättern, während sie unter Beifall den ganzen Brecht An die Nachgeborenen vortrug.
»›… weil es ein Schweigen über so viele Untaten einschließt! Wirklich, ich lebe in finsteren Zeiten! … Ich vermochte nur wenig, aber die Herrschenden saßen ohne mich sicherer, das hoffte ich … Auch der Zorn über das Unrecht macht die Stimme heiser …‹«
»Wir sind das Volk!«, tröteten die Demonstranten.
Ohaaa! Einfach genial, die Krott! Ab heute bin ich ihr ergeben. Was für eine spitzbübische Idee, den alten Kempen auf die Bühne zu bringen, der beim kulturbewanderten Publikum keinen Argwohn erregte. Das war Cento, zwar anders, als Matthias Kern mir das erklärt hatte, kein Flickengedicht, sondern ein ganzer nasser, schmutziger und giftiger Lappen, den die Malefizkrott uns um die Ohren klatschte. Denn der Zorn macht auch dann die Stimmen heiser, wenn es um etwas so Unnützes wie Kulturgut geht, wenn jemand mir das Nippes auf der Anrichte zerkloppt.
Aber wer hat da eben geschossen?
Der Schuss war deutlich zu hören gewesen. Den Bruchteil einer Sekunde vorher sah ich einen Funken am Gestänge für die Plane, und etwas schlug im Holzboden des Lastwagens ein.
Marlies Schrader duckte sich und riss ihre Tochter an sich, Michel Schrader zuckte zusammen und blickte wieselflink umher. Ich schubste den Deeskalationsmeister beiseite, sprang auf die Ladefläche, nahm Lolas Hand und riss sie mit mir vom Lastwagen. Die Leute murrten. Köpfe drehten sich. Mitten hinein schrie eine Frau: »Die schießen auf uns!«
Ein Raunen schwoll. Kleine Panikwirbel entstanden.
»Ruhe bewahren!«, rief der Deeskalationshelfer ins Mikro. »Es ist nur ein Steinchen geflogen. Ich bitte drin gend, Ruhe zu bewahren. Wir lassen uns nicht von Chao ten provozieren!«
Irgendwo hinten gab es Tumult, der aber versickerte. Buhrufe ertönten, das
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