Malenka
Bäckerei, der Zigarrenladen, alles vertraut von Kindheit an, aber die Kindheit war vorbei.
»Gut«, sagte Margot. »Dir auch?«
»Ich verstehe Mathe nicht«, sagte Lore Möller, »schade, du konntest immer alles so gut erklären. Gefällt es dir in der Bank besser als in der Schule?«
Margot nickte. »Viel besser. Was man da lernt, kann man wenigstens gebrauchen, nicht dieses ganze unnütze Zeug«, und Lore Möller meinte, sie würde auch lieber abgehen, dürfe es nur nicht.
»Kommst du mit zum Bummel?«
»Keine Zeit«, sagte Margot, »morgen vielleicht.«
Von da an benutzte sie den Hinterausgang. Lore Möller mit Geometrie und einem Platz im Chemiesaal, mit Maupassant, Hölderlin und den Hebbelschen Dramen, was gab es da noch zu reden. Sollte sie ihr sagen, daß sie lebte wie in einem falschen Traum?
In der Bank allerdings merkte niemand etwas davon. Im Gegenteil, was sie tun mußte, tat sie ordentlich und zur Zufriedenheit, so daß Direktor Wimheuer sie bereits nach acht Wochen von der Registratur in die Korrespondenzabteilung schickte, wo es Überweisungsformulare auszufüllen galt, Zahlen, Namen, Zahlen, Namen, das war nun die Welt. Ehrenvoll für einen Lehrling, meinte Fräulein Lerche und lud sie am Sonntag zu Kartoffelkuchen und Pfefferminztee ein, um danach ihr Fotoalbum zu öffnen und von der Liebe zu reden, für jeden kommt die Stunde, sagte sie, auch für dich, und mögest du so glücklich werden, wie ich es geworden bin. Fräulein Lerches gespenstische Liebe. Und dann wieder die Korrespondenzabteilung, Zahlen und Namen, und der Korrespondenzabteilung folgte die Kontokorrentabteilung und der Kontokorrentabteilung die Scheck- und Wechselabteilung, und alles, was Margot tat, tat sie weiterhin zur Zufriedenheit und mit Widerwillen und ohne zu wissen, warum und wozu. Die Ewigkeit, dachte sie, dies ist die Ewigkeit, und wenn sie Fräulein Lerche sah, nichts als das Geld anderer Leute, keine Zukunft, wurde ihr angst.
»Bist du nicht einzige Mensch mit Herz und Blut«, sagte Anna Jarosch. »Sucht jeder Glück, wo kriegt, auch Lottchen Lerche.«
»Ich will so ein Glück aber nicht.«
Sie saßen in der Küche, Februar 1943, ein eisiger Tag. Margot hämmerte mit den Fäusten auf den Tisch, eine Tasse kippte um, braune Brühe lief über die gestickte Sonntagsdecke, und ihrer Großmutter fiel der alte Hochmut wieder ein, immer das Bessere begehren, als dir zusteht. Wie deine Mutter, wollte sie sagen, doch in Margots Gesicht las sie etwas anderes, und so sagte sie nur: »Ist ja gut, Malenka, wird alles gut, kannst du finden richtige Arbeit für dich, wenn wieder Frieden, weiß ich bestimmt.« Trostversuche. Aber diesmal hatte Anna Jarosch richtig prophezeit. Es war keine Ewigkeit vorgesehen für Margot und die Bank im Kalender der Zukunft, nur noch ein Jahr, vierzehn Monate genauer, allerdings nicht des Friedens wegen, auch dann noch kein Frieden, noch immer nicht.
Anna Jarosch tupfte den Kaffee von der Decke und streute auch noch Salz über den Fleck. Draußen schien die Sonne, der Schnee auf den Simsen von Bäcker Manzigs Schaufenster glitzerte bläulich. Kuchen gab es bei ihm schon längst nicht mehr zu kaufen, nur klebriges Brot auf Marken, wie auch die Dobbertinsche Käseproduktion allmählich zum Erliegen kam in diesem vierten Kriegswinter. Mit Anna Jaroschs Wursthandel war es seit dem Herbst endgültig vorbei. Nur noch durch Kartenschlagen gelang es ihr, das Haushaltsgeld aus Rente und Margots Lehrlingslohn aufzustocken, immer in Angst um ihre Ersparnisse, die trotz der engen Verbindung zur Bank wie eh und je unter dem Dielenbrett versteckt lagen für die Zeit nach dem Krieg, womit sie nicht etwa den von der Propaganda schon im voraus bejubelten Endsieg meinte, sondern Zustände wie 1918, also Elend und Not.
Wann es freilich soweit sein würde, konnte niemand sagen, der Krieg schien ins Endlose zu laufen. Trotz der verlorenen Schlacht um Stalingrad tönten weiter Fanfaren aus dem Radio, Durchhalteparolen tagein, tagaus, wir werden siegen, wer anderes ahnte, schwieg, wenn ihm sein Leben lieb war, Stille im Land. Der Schrecken war alltäglich inzwischen, die Beschränkungen und Ängste, die verdunkelten Nächte, in denen der Luftschutzwart Wilhelm Maschulke, Bürobote tagsüber am Landratsamt, stündlich durch die Straßen patrouillierte und um den winzigsten Lichtschein in einem Fenster unverhältnismäßiges Geschrei erhob, alltäglich die wachsenden Zahlen der Verwundeten und Vermißten, die Seiten
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