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Malenka

Malenka

Titel: Malenka Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Irina Korschunow
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sehen.« Hoffnungen, Pläne, Ziele. Ich bin doch erst achtzehn, Großmutter, es fängt doch erst an. Anna Jarosch, wenn sie noch lebte, hätte einen Spruch zur Hand gehabt für diese Gelegenheit: Sitzt Mensch in Wagen, aber Gott lenkt Pferde.
    Am nächsten Tag brachte Wiethe zwei Dosen Schweinefleisch mit ins Büro, als eiserne Ration für Margot, falls sie vorhabe, seinem Rat zu folgen, und gab ihr auch eine Landkarte.
    »Eilt es denn so?« fragte sie erschrocken.
    Er lachte. »Keine Angst, erst muß unsere Liste fertig werden. Ich sage Ihnen Bescheid.«
    Aber dazu kam es nicht. Daß Margot sich so bald auf den Weg machte, schon zwei Tage später, Hals über Kopf, bei Nacht und Nebel, geschah nicht mehr auf Wiethes Rat, sondern durch seine Schuld. Verrat nannte es Margot, ein Wort, das Wiethe, als sie sich schließlich wieder gegenüberstanden viele Jahre später, nicht annehmen wollte. Wieso Verrat, er habe niemanden verraten, er habe seine Haut retten müssen, hätte er sich denn noch verheizen lassen sollen so kurz vor Schluß? »Bin ich etwa deswegen dem Tod dauernd von der Schippe gesprungen?« fragte er, und Margot, des ersten Gesprächs im Stralsunder D-Zug eingedenk - abgesoffen und gerettet und wieder abgesoffen und gerettet-, ließ es im nachhinein als Argument gelten. Es habe, meinte sie, ohnehin zu viele Helden gegeben.
    Also kein Filou?
    Doch, behauptet Liesbeth Domalla und ist nicht davon abzubringen. Aber kein Verrat, das wenigstens nicht. Im Stich lassen genügt. Sagen wir: Wiethe hat Margot im Stich gelassen.

    Was den Anfang betrifft, der Anfang war Vertrauen. Erst das Vertrauen, dann der Panzerschrank. Aber wer hätte dergleichen voraussehen können auf der Fahrt nach Mellenthin, damals, als sie sich zum ersten Mal begegneten. Ein Blick genügte, da vergaß Wiethe schon, seine Worte zu wägen, so wie Margot bedenkenlos alle Türen der Pyritzer Verliese öffnete. Vertrauen, das Geschenk und der Köder, Gold und Dreck am Weg. »Ich vertraue Ihnen«, sagte Wiethe vor dem offenen Panzerschrank, als er ihre Hilfe brauchte, »tun Sie es für mich«, und Margot, weil sie ihm vertraute, tat es.
    Der Panzerschrank stand gegenüber von Wiethes Schreibtisch, ein mächtiges, stahlgraues Rechteck, verbotenes Terrain, nur ihm als diensthabendem Offizier zugänglich. Selbst Inspektor Kleinert, dem Faktotum, blieb es verwehrt, einen Blick in das Innere zu werfen, das geheime Herz des Arsenals, wie der Kommandant, Korvettenkapitän Rottenbuch, es jeweils bei der Schlüsselübergabe zu nennen pflegte, nicht ohne Ironie. Denn der Koloß, nunmehr Wiethe anvertraut und von ihm notfalls mit dem Leben zu verteidigen, barg in seiner Höhle einzig und allein eine schwarz eingebundene Kladde, schwarzes Buch genannt, mit den Formeln für die Pulvermischungen sämtlicher bisher produzierter und inzwischen längst verpuffter Signalraketen. Ein Archiv, in das seit Bestehen des Arsenals noch nie jemand Einblick begehrt hatte, wozu auch, Pulvervariationen für Signalraketen gab es wie Sand am Meer, genug für den jetzigen Krieg und die fünf nächsten. Aber Ordnung mußte sein.
    Und so erschien an jedem Morgen Punkt acht ein Bote aus der Zentrale, um eine Tasche mit braunen, versiegelten Umschlägen zu überbringen, sechs oder acht, manchmal mehr, auf jedem einzelnen der rote Stempel GeKaDos, Geheime Kommandosache. Der Bote wurde von Kleinert zur Tür des Chefbüros geleitet, wo Wiethe, streng nach Reglement, die Tasche in Empfang zu nehmen, die Tür zu verschließen, die Umschläge aus der Tasche zu holen, den Panzerschrank zu öffnen, die Umschläge dort zu deponieren, den Panzerschrank wieder zu verschließen, die Bürotür zu öffnen und die Tasche dem Boten zurückzugeben hatte. Eine feierliche Prozedur, der sogleich die nächste folgte. Es mußte nunmehr der Panzerschrank neuerlich geöffnet, jedem Umschlag das inliegende Blatt entnommen und die darauf vermerkten Formeln für die Produktion des Tages handschriftlich in das schwarze Buch übertragen werden. Den Abschluß bildete die Verbrennung sämtlicher Originalblätter über einer eigens zu diesem Zweck installierten eisernen Schüssel, ein Vorgang, der, insgesamt sieben Umschläge als Durchschnitt zugrunde gelegt, etwa achtzig Minuten dauerte, Wiethes tägliches Pensum, gerade noch zu schaffen, soll er nach seinem ersten Mellenthiner Tag zufrieden geäußert haben.
    Daß er dennoch an dieser Aufgabe scheiterte, war dem wandernden Granatsplitter in seinem Brustkasten

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