Malenka
nachmittags, das müsse man besprechen. Nur in der übrigen Zeit...
»Niemand hier hat übrige Zeit«, sagte Frau Schaper, worauf der Pastor sich einzumischen versuchte, aber von Selma unterbrochen wurde, die mit vollem Mund »Mahlzeit« murmelte und aus dem Zimmer rannte.
»Margret wohnt bei uns«, sagte Frau Schaper. »Sie gehört zur Familie, wer das Haus teilt, teilt auch die Pflichten.«
Pastor Schaper, der in seiner Studierstube stets leise zu sprechen pflegte, schon deshalb, weil er zur Heiserkeit neigte und sich schonen mußte, holte tief Luft wie vor einer Predigt. »Klara, wie kannst du von Margret verlangen, daß sie für dich den Himmel verdient?« Es war sein Kanzelton, überdeutlich, die ganze Kirche vermochte er damit zu füllen. »Wahrlich, jeder muß es auf seine Weise tun, auch dieses Kind, es wird seinen Weg finden«, und Margot hörte Anna Jaroschs zitternde Altersstimme aus den Zeiten der Koliken und Höllenängste: »Habe ich gehabt kein gute Platz auf Erde, Malenka, möchte ich haben gute Platz in Himmel.«
»Ich weiß nicht, ob ich mir den Himmel verdienen will«, hätte sie beinahe gesagt, um Pastor Schaper wenigstens in diesem Punkt nicht zu hintergehen. Aber weil ihm ein solcher Satz wahrscheinlich schmerzlich gewesen wäre, sagte sie nur: »Hier unten sollte es gut sein.«
Pastor Schaper schüttelte bekümmert den Kopf: »So kann sich ein alter Knecht des Herrn nicht zufriedengeben«, sagte er, während seine Frau schweigend die letzte Kartoffel zerdrückte. Dann begann sie, den Tisch abzuräumen, ohne ein Wort, antwortete auch nicht, als Margot eine gute Nacht wünschte.
Margot ging in ihr Zimmer, leise, denn die Schlafgäste lagen bereits auf den Strohsäcken im Flur. Sie hatte schon ihre Bluse ausgezogen, da kam Frau Schaper mit einem Glas Milch in der Hand, wie sie es manchmal tat. Sie stellte das Glas auf den Tisch, schien wieder zu gehen, drehte sich dann jedoch um. »Selbstverständlich bleiben Sie weiter bei uns wohnen, Margret«, sagte sie, den Kopf gesenkt, und Margot, ohne nachzudenken, lief zu ihr hin und schlang die Arme um sie. »Eigentlich bin ich ...« wollte sie sagen, konnte aber nicht sprechen, weil Tränen im Hals saßen und herausdrängten, so blieb es bei dem Wirrwarr von Gefühlen und Gedanken, für jetzt, für Jahre, wenn auch nicht für immer.
Ich will studieren. Worte, aus denen Wirklichkeit werden sollte. Margot hatte ihren Namen dafür hergegeben, fast auch, im Streit mit Frau Schaper, das Dach über dem Kopf, nun begann sie mit den Vorbereitungen.
»So ein Studium kostet mehr, als Sie ahnen«, meinte Pastor Schaper besorgt, der zwar wußte, daß sie etwas Geld besaß, aber die genaue Summe nicht kannte. Doch um das Geld machte sie sich vorerst keine Gedanken. Es lag unter der Wäsche im Schrank, versteckt und verschlossen, runde zweitausendvierhundert Mark. Seit der Ankunft in Hannover hatte sie nichts verbraucht, es waren sogar pro Woche zehn Mark hinzugekommen, Taschengeld, das sich ohnehin kaum ausgeben ließ, wofür auch bei den leeren Schaufenstern und Geschäften. Und selbst an den größten Verlockungen wäre sie vorbeigegangen in ihren gestückelten Spendenkleidern, damals, als der Traum noch galt.
Nur die Englischkenntnisse fehlten, das Pensum der Oberstufe, Lücken, die gefüllt werden mußten. »Wer will hacken Holz, findet auch Axt«, hatte Anna Jarosch gesagt, und Margot fand den Kirchenvorsteher Dr. Isemann, Studienrat an der zerbombten Herschelschule, von dem sie nicht nur die nötigen Lehrbücher bekam, sondern auch Rat und Hilfe. Dr. Isemann wohnte dicht beim Pfarrhaus, Ecke Friesenstraße, ein gravitätischer Herr von großer Bereitwilligkeit, nur leider ebenso umständlich in seinen Erklärungen. Immer fange er bei Adam und Eva an, hatte Pastor Schaper sie schon gewarnt, so daß Margot nur notfalls, bei Schwierigkeiten mit der Aussprache etwa, den Zeitverlust in Kauf nahm und sich sonst lieber allein durch die Bücher kämpfte. Lektionen, Vokabeln, Grammatik. Punkt halb acht saß sie an ihrem Tisch, unbeirrbar durch die Turbulenzen draußen im Treppenhaus, wo der Flüchtlingsmorgen begann, Selma trampelnd ihren Unmut kundtat und Frau Schapers Stimme um Hilfe zu flehen schien. Eine kurze Pause zwischen zehn und elf zum Aufräumen der Studierstube, das hatte der Pastor sich ausbedungen, und dann nochmals übersetzen, repetieren, so verging ein Vormittag nach dem anderen und schließlich der Sommer, dessen Kommen und Gehen sie nur an
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