Malenka
wieder. »Wer ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein, und wer ist ohne Sünde in diesem Land? Ich nicht. Sind Sie es?«
Die Frage nach der Schuld, zum ersten Mal jene Frage, aus der sich eines Tages die nächste schälen wird: Willst du wieder schuldig werden? Margot sah die Schalterhalle, Lotte Lerche, man bringt sie fort, und alle schweigen. Sie hörte Lores Stimme: Du bist auch nicht zu mir gekommen, damals.
»Sie haben natürlich recht, liebes Kind, fragwürdig, alles sehr fragwürdig, und meinem Sohn würde ich so ein Zeugnis wohl verweigern müssen. Aber Sie sehen, er zeigt sich erst gar nicht.«
Nun jedoch war Robert Kremer da. In der Studierstube stand er Margot gegenüber. Es gab ihr einen Stich, wie er aussah, noch magerer geworden zwar, doch tadellos sonst in dem hellen Sommermantel, mit passendem Hut dazu, jemand, der gut über den Krieg gekommen war. »Das übliche«, sagte Pastor Schaper und, nachdem er die Bescheinigung unterschrieben hatte: »Wenn Sie den Herrn hinausbegleiten würden, mein Kind.«
Sie ging den Flur entlang. Robert Kremer folgte ihr schweigend und ließ sich die Tür öffnen. Erst dann fragte er: »Was tun Sie hier eigentlich?«
»Ich wohne im Pfarrhaus.«
»Ach wirklich«, murmelte er, und sie fügte hinzu: »Von mir hat niemand etwas erfahren.«
»Sehr freundlich von Ihnen.« Es klang so absurd, sehr freundlich, meine Tochter, sehr rücksichtsvoll, daß Margot lachen mußte. »Bitte sprechen Sie auch nicht darüber«, sagte sie nur.
»Natürlich nicht.« Er blieb an der Tür stehen. »Ich hoffe, Sie haben es hier gut?«
Margot nickte. »Danke, sehr gut. Hängt eigentlich das Hitlerbild noch bei Ihnen im Herrenzimmer?«
»Natürlich nicht«, sagte er wieder, drehte sich um und ging, eine große, schlanke Gestalt auf dem Weg. Margot wartete, bis er um die Ecke gebogen war, dann lief sie in ihr Zimmer und ließ sich, obwohl Frau Schaper unten lamentierte, erst nach einer Stunde wieder blicken. Die Angst vor Robert Kremer war verschwunden, ihr Unbehagen im Pfarrhaus jedoch kaum gemindert, dieses Gefühl, mit dem Kopf gegen Wände zu rennen. Aber nichts ließ sich zwingen, langsame Tage, weite Spannen zwischen Wünschen und Tun. Der Herbst mußte kommen, bis etwas geschah.
Im August hatte Margot die Lektionen ihres Lehrbuchs durchgearbeitet, im Eilverfahren, Zeit nun, sich auf Wiethes Rat zu besinnen: »Agatha Christie, young Lady. Liest sich wie Butter.«
»Agatha Christie?« Dr. Isemann schüttelte angewidert den Kopf. Das seien Kriminalromane, dergleichen liebe er nicht, könne eine solche Lektüre auch guten Gewissens niemandem empfehlen. »Wie wäre es mit Thomas Hardy? Oder Wuthering Heights von Emily Brontë, haben Sie davon noch nichts gehört? Die Schwestern Brontë, Emily und Charlotte, Töchter aus einem englischen Landpfarrhaus, zwei hervorragende Schriftstellerinnen, jede in ihrer Art, überhaupt haben ja diese Pfarrhäuser auf dem Dorf so manches Talent hervorgebracht.« Nur mit Mühe gelang es Margot, seinen Exkurs zu unterbrechen. Sie nahm die Bücher mit, die er ihr gab, scheiterte aber schon nach den ersten Seiten an schwierigen Vokabeln und Konstruktionen und suchte, da Dr. Isemann nichts zu bieten hatte, was sich auch nur annähernd wie Butter las, die Buchhandlungen ab, umsonst. »Agatha Christie in Englisch? Woher denn, wir hatten doch Krieg mit denen«, und auch Pastor Schaper fand lediglich eine deutsche Übersetzung von »Death on the Nile« im Regal eines Amtsbruders. »Gehen Sie doch mal zur Militärregierung«, empfahl er Margot, scherzhaft nur, ein zu abwegiger Vorschlag seiner Meinung nach. Aber Margot war entschlossen, nichts unversucht zu lassen.
Die Besatzungsmacht, die damit in Margots Geschichte tritt und einen gewissen Einfluß auf den Fortgang zu nehmen beginnt, privat, nicht nur in der zwischen Siegern und Besiegten üblichen Weise, obwohl selbst hier sich das Private nicht vom Allgemeinen trennen läßt, hatte bereits im Frühjahr gewechselt. Nach den Amerikanern der ersten Stunde, langen lässigen Gestalten, die Kinder auf ihren Panzern herumkrabbeln ließen, ihnen Kaugummi schenkten und es in fröhlicher Unbekümmertheit fertigbrachten, mit den Stahlhelmen Fangeball zu spielen, so daß mancher deutsche Mann sich fragte, wie dieser lasche Haufen den Krieg gewinnen konnte, nach den Amerikanern also waren die Briten eingezogen, klein und verpickelt meist die gemeinen Soldaten, rauhbauzig oder gutmütig, je nachdem, während ihre
Weitere Kostenlose Bücher