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Malenka

Malenka

Titel: Malenka Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Irina Korschunow
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Rathaus am Markt prächtig mit Schnitzereien geschmückt, auf dem Kirchplatz der romanische Dom aus grauen Quadern, und alles von den Katastrophen des Krieges verschont. Weder Schüsse noch Bomben waren hier gefallen, Schreckenswörter wie Flucht und Vertreibung nur vom Hörensagen bekannt, so daß für manchen Bürger die Katastrophe erst kam, wenn man ihm eine Flüchtlingsfamilie in die gute Stube setzte, die kochen und essen mußte, sogar verdauen, hergelaufene Menschen, womöglich noch eine Person mehr als beim Nachbarn.
    Klagen über solche und ähnliche Mißhelligkeiten, die Bevorzugung von Kollegen etwa, eine Wohnung, die anderen zugesprochen wurde, Streitereien, bei denen man unterlegen war, landeten im Schlößchen Annenburg, wo die Militärregierung residierte, oberste Instanz momentan, und da die Beschwerden nicht nur aus der Stadt, sondern dem gesamten Landkreis eintrafen, fand Margot jeden Morgen einen Pappkarton voller Briefe im Vorzimmer von Sir William Hollet, der jetzt Colonel war, vor. Denunziationen hauptsächlich, der größere Teil anonym, und immer im gleichen Tenor: daß nämlich dieser oder jener der schlimmste Nazi gewesen sei, nun aber besser behandelt werde als man selbst, »... und muß ich sehen, wie dieser Mensch auch ohne Parteiabzeichen wieder die erste Geige spielt«. Die meisten Briefe warf sie weg, in stillschweigendem Einverständnis mit Colonel Hollet, bedauerte später jedoch, daß sie die Anzahl nicht notiert hatte, um den Prozentsatz an Denunziationen innerhalb des Kreises errechnen zu können. Ein hoher Prozentsatz mit Sicherheit und Anlaß für Margots erste Zweifel, ob mit dem Ende von dem, was Herr Dobbertin Hitlerwirtschaft genannt hatte, sich auch im Verhalten der Menschen etwas ändern würde. Wem überhaupt zu trauen sei, fragte sie angesichts des täglich neugefüllten Kartons Herrn Baranow, der mit den Schultern zuckte: keinem, vernünftigerweise.
    Im übrigen war die Sichtung und Vernichtung der Briefe nicht Margots einzige Tätigkeit bei der Militärregierung, auch nicht die erste. Voraus ging ein sechstägiger Sprachkurs, von Colonel Hollet befohlen und organisiert, der zu diesem Zweck den für die Registratur verantwortlichen Sergeant Stanley Schofield vom Dienst freigestellt und den Lehrplan wie folgt festgelegt hatte: reden, jeden Tag von neun bis eins, nach dem Mittagessen mußte Herr Baranow antreten, dessen Sprachkenntnisse ihn nach Meinung des Colonels befähigten, Punkt zwei von Margots Ausbildung zu übernehmen. »Miß Möller kann ihre Grammatik«, hatte er zu ihm gesagt, »spricht auch schon recht gut und ist nicht dumm. Machen Sie aus ihr eine Dolmetscherin für mich«, was bei Herrn Baranow allerdings Panik hervorrief. »In sechs Tagen! Wie soll ich dazu in der Lage sein? Bin ich Jesus Christus? Kann ich Wunder vollbringen?«
    Es war an Margot, ihm Mut zuzusprechen. »Einfach anfangen« schlug sie vor, so wie auch Sergeant Schofield einfach angefangen hatte, »how are you, Miß Möller, did you sleep well last night, what about the weather today«, und so weiter und so fort. Er war ein fröhlicher Mensch, Londoner, mit zwei kleinen Kindern, Brenda und Collin, ein ergiebiges Thema bereits für die Übungen, aber auch Politik interessierte ihn, Geschichte, ferne Länder, Kino, gutes Essen, eigentlich alles, und da er die Dinge mit eben dem Witz betrachtete, der Colonel Hollet in so extremer Weise fehlte, ermüdeten bei dem stundenlangen Hinundhergerede allenfalls Margots Stimmbänder. Gegen Ende der Woche merkte sie, wie die englischen Sätze ein Eigenleben zu entwickeln begannen, ohne deutsche Zwischengedanken.
    »You have got it«, sagte Sergeant Schofield vergnügt und machte seinem Kommandanten entsprechend Meldung.
    Bei dem stärker zur Systematik neigenden Hern Baranow hingegen drohten die Dinge im Kleinkram steckenzubleiben: Gerundium, Partizip, Infinitiv, die ifs und woulds und Adverbien, lauter Finessen und Feinheiten, um deretwillen er Margots Redefluß beharrlich unterbrach, so daß es über dem Gegensatz zwischen Geläufigkeit und Perfektion am ersten Tag beinahe zum Eklat kam.
    »Sie vergewaltigen die Sprache Shakespeares!« rief er, während Margot ihn Dünnbrettbohrer nannte, ein Ausdruck, der ihm unbekannt war und erklärt werden mußte, unnötiger Zeitverlust, bis sie sich schließlich durchsetzte mit Hinweis auf Colonel Hollet, dem es beim Dolmetschen ganz gewiß mehr auf den Inhalt als die Eleganz des Vortrags ankäme. Und wen wohl

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