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Malenka

Malenka

Titel: Malenka Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Irina Korschunow
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Umwege hielt. Bielefeld etwa, nie wäre sie nach Bielefeld gekommen ohne jene schnelle Wendung am Fahrkartenschalter von Iffenhausen. »Schreibt Gott mit krumme Feder«, hatte Anna Jarosch bisweilen gesagt.
    Göttingen also, zunächst Göttingen. Margot geht über den Wilhelmsplatz und in das Aulagebäude.
    Es war mitten im Sommersemester, und Major Brooks, der Universitätsoffizier, ein älterer Herr mit geradem, etwas steifem Rücken, zeigte sich irritiert, auch deshalb, weil es Margot unter Hinweis auf Colonel Hollet geschafft hatte, außerhalb der Sprechstunde in sein Büro zu gelangen, eine Beharrlichkeit, die sie nun bereute. Der Raum war kahl und abweisend. Über dem blankgeputzten Schreibtisch hing das Porträt eines Gelehrten im Talar, dessen strenge, unbeirrbare Augen Margot noch ängstlicher machten.
    Selbstverständlich könne er sich an das Gespräch mit Colonel Hollet erinnern, sagte Major Brooks in ausgezeichnetem Deutsch, und schon sein Tonfall verriet, wie sehr es ihm gegen den Strich ging, wenn höhere Chargen jungen Mädchen zuliebe ihre Fäden zogen. Was sie denn mitten im Semester hier wolle? Die Einschreibungen für den Winter begännen im September, auch jemand wie sie müsse sich wohl oder übel an die Termine halten.
    »Ich brauche jetzt schon ein Zimmer.« Margot wagte kaum, ihn anzusehen, und Major Brooks setzte seine Brille auf und musterte sie mißtrauisch.
    »Zimmer werden vom studentischen Wohnungsamt erst nach der Immatrikulation vermittelt. Hat Colonel Hollet Sie gefeuert?«
    »Nein, ich bin freiwillig gegangen«, sagte Margot, womit Major Brooks die Sache, soweit es ihn betraf, offensichtlich für erledigt hielt. »Das Dekanat, Miss Möller, wenden Sie sich an das Dekanat, das müssen andere auch.«
    Er legte seine Brille schnurgerade ausgerichtet neben die Federschale, erhob sich dann, Ende des Interviews, und Margot sah das letzte Jahr vor sich, was sie getan und gewagt, hingenommen und weggeworfen hatte, und alles umsonst. »Können Sie mir denn nicht helfen«, rief sie, »gibt es nicht irgend etwas, eine Sondergenehmigung vielleicht«, mit soviel Panik in der Stimme, daß Major Brooks sich noch einmal hinsetzte. Sondergenehmigungen? Ob sie sich überhaupt vorstellen könnte, was sich hier abspielte. Ganz Deutschland wolle anscheinend in Göttingen studieren, und Sondergenehmigungen würden nur in Sonderfallen erteilt, an Displaced Persons und andere Opfer des Faschismus. »Und seien Sie froh, daß Sie kein Opfer des Faschismus sind, Miss Möller. Fahren Sie nach Hause, warten Sie ab, jeder bekommt seine Chance.«
    Es klang wohlwollender als vorher, ließ aber keinen Zweifel an der Entscheidung. »Unerfreulich, ein verlorener Krieg«, sagte er abschließend, »auf Wiedersehen, Miss Möller.«
    Margot sah zum Fenster hinaus auf den Wilhelmsplatz, wo Gruppen junger Leute vor der Mensa standen, Studenten, die hierher gehörten und bleiben konnten. Und sie öffnete ihre Tasche und griff nach dem Umschlag, das Todesurteil, der Vollstreckungsbescheid, die Rechnung für Dr. Möllers Ende. »Da«, sagte sie, und nun war es geschehen, und sie wußte, daß es nicht gut war.
    Major Brooks setzte die Brille wieder auf und begann zu lesen.
    »Ihr Vater?«
    »Ja«, sagte sie und gab ihm das Abiturzeugnis, Leonore Margret Louise Möller, Tochter von Dr. med. Georg Möller, Pyritz.
    »Und Ihre Mutter?«
    Sie sagte auch noch, was mit Frau Möller passiert war.
    »Haben Sie keinen Ausweis als Opfer des Faschismus?«
    »Nein.«
    »Es würde vieles erleichtern.«
    »Ich will es nicht.« Margot senkte den Kopf, gleich weint sie, dachte Major Brooks erschrocken, so ein nettes Mädchen, will keinen Vorteil aus dem Tod ihres Vaters herausschlagen, weiß der Himmel, was dieser Hollet mit ihr gemacht hat.
    Er griff zum Telefon, alles lief nun schnell und reibungslos, ein Platz unter den Vormerkungen für das nächste Semester, danach ein Anruf beim Wohnungsamt, »und viel Erfolg, Miss Möller.«
    Es war immer noch Vormittag, die gelb-blauen Streifen auf Margots Kleid leuchteten in der Sonne. Nett und sauber, dachte Major Brooks, der am Fenster stand und sah, wie sie über den Wilhelmsplatz ging, sauber, ihr Attribut seit Kinderzeiten, immer wie frisch gewaschen, hatte schon Frau Dobbertin gesagt. Doch ihr kam es jetzt vor, als fresse sich eine graue Schicht in ihre Haut. Und obwohl sie dies Gefühl zu vertreiben suchte mit tausend Argumenten, es blieb allgegenwärtig wie ein Dauerschmerz, den man spürt,

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