Maler und Mädchen - Maler und Mädchen
gelangt. Als wüßte Else bereits, wie ihr Leben von hier aus weitergehen würde, wandte sie sich dem Wasser zu, ohne daran zu denken, daß sie hier nicht allein herumlief, sondern sich in Gesellschaft befand. Ragnar suchte ihren Blick und ärgerte sich.
»Was schaust du denn so …«
Else blickte zu einer Galeone der holländischen Handelsflotte mit Ober- und Unterdeck, die von einem Proviantschiffflott aus der Bucht geschleppt wurde. In der dritten Maiwoche waren ihr Stiefbruder und sein Kamerad, der Bootsmann, auf einem Nordfahrer dieses Typs losgesegelt. Sarah-Dina gelang es, diese erste Zeit des Wartens auf die Rückkehr ihres Liebsten gut zu überstehen, unter anderem indem sie ihrer jüngeren Schwester bei passender und unpassender Gelegenheit mit einer Stadt, die auf einem unterirdischen Sumpf erbaut war, in den Ohren lag. Die Nachfrage nach Dienstmädchen ist dort so groß, sagte sie, daß sie wie Prinzessinnen behandelt werden. Sie sitzen bei Tisch neben der Dame des Hauses und werden als erste bedient, sonntags dürfen sie zweimal in die Kirche, sie schlafen neben dem Feuer in der Küche …
Ragnar hatte einen Schritt nach vorn getan. Mit breiter Brust, wie ein Erpel während der Paarungszeit, baute er sich eine Handbreit vor ihr auf, um ihr zu zeigen, mit wem sie hier war. Sie mußte lachen, auch er lachte kurz, packte sie am Oberarm und zog sie mit in die Hafenkneipe Zout.
In der Schankstube war es warm und schummerig gewesen. Sie hörten dröhnende Männerstimmen und rochen den heimeligen Geruch eines Raums, dessen Fenster selten geöffnet werden. Das bringt den Gast, noch bevor er einen einzigen Schluck getrunken hat, in die richtige Stimmung. An einem Tisch unweit des Kamins saß ein Mann, der Ragnar und Else beim Eintreten zunickte und mit seinem einladenden Blick unwillkürlich zu sich lotste. Es war ein ehemaliger Hausknecht, mager und krumm, der jetzt als Lohnschreiber arbeitete. Ragnar kannte ihn.
Sie hatten sich zu ihm gesetzt. Ragnar bestellte eine Runde Bier. Als sie den ersten Schluck genommen hatten, sah derehemalige Knecht, der auch ein Erzähler war, Else einen Augenblick lang nachdenklich an. Nachdem er sich wie von ungefähr erkundigt hatte, ob sie vielleicht eine Geschichte, eine poetische Anekdote hören wollten, begann er von einem Witwer zu erzählen, der eine wesentlich jüngere Frau geheiratet hatte. Er schilderte, wie sie aussah, hübsch, das verstand sich, wie seine Verliebtheit den Mann mit der Zeit völlig beherrschte und wie eine böse Nachbarin ihn eines Tages mit einer Vielzahl geiler, sehr glaubhafter Phantasien davon zu überzeugen vermochte, daß seine Frau ihn betrüge. »Stellt euch vor«, sagte der Hausknecht, »wie dieser Mann sich auf einmal als Bettler in seinem eigenen Haus fühlte, als Betrogener, als Trottel, stellt euch vor, wie er gebeugt am Küchentisch saß, den Rücken seiner Gewährsfrau zugekehrt, ›Ich glaub’s nicht!‹ rief und sich – zu spät! – die Finger in die Ohren steckte. Traurig, nicht? Das Ende vom Lied war natürlich, daß die lautere Wahrheit ans Licht kam, ist doch klar, und die Liebesheirat standhielt. Der eigentliche Grund, warum ich euch von diesem Fall erzähle, aber ist die absonderliche Tatsache, daß der Mann nach dieser bösen Nachricht auf einen Schlag so gut wie taub wurde und es, sogar nach dem leider baldigen Tod seiner Frau, für immer und ewig blieb.«
Stille. An einem benachbarten Tisch stimmte jemand ein Lied an. Else, die der Geschichte kaum zugehört hatte, blickte auf das Tintenfläschchen, die Gänsefedern und das Döschen mit Sand, die der Hausknecht vor sich bereitgelegt hatte. Da kam, zum zweitenmal an diesem Nachmittag, die Frage:
»Was schaust du denn so, Mädel …?«
Der Hausknecht, der für einen mit schöner Hand geschriebenenHeiratsantrag, eine Tauf- oder Todesanzeige zwei Stuiver verlangte, starrte erst sie an, dann Ragnar.
Kurz darauf saß Else da und schrieb, die Zunge zwischen den Zähnen. Zum erstenmal in ihrem Leben hielt sie eine Schreibfeder in den Fingern, unterstützt von einem jungen Mann, der sie liebte, während am Nebentisch noch immer traurig und schön gesungen wurde. Das Lied, von dem holländischen Komponisten Sweelinck zu Gedichtzeilen des französischen Dichters Ronsard, war auf Plattdeutsch enorm populär in Jütland.
De Leevde, ach, is Raseri
Ut den Höllenschlund
Armet Hart, du geihst dorbi
Elendiglich to Grund!
Dabei schrieb sie, verblüfft seufzend, die
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