Maler und Mädchen - Maler und Mädchen
einen Besuch abgestattet hatte, im vorigen Sommer, Mitte Juni. Es hatte sie natürlich geschaudert, als ihnen, noch bevor sie in die Keizersgracht bogen, bereits zweimal ein Leichenzug entgegengekommen war. Dennoch war es keine wirkliche Angst gewesen. Die kam erst einige Wochen später, am ersten Morgen zunächst nur als Vorhut, als Ricky sich mit Fieber widerstrebend ins Bett gelegt hatte.
»Ach, wie ärgerlich«, hatte sie zu ihm gesagt. »Heute nachmittag kommt noch jemand wegen dieser kleinen Figur, diesem Gesicht.«
Sie und ihr Stiefsohn betrieben im Hinterhaus ein Geschäft, das recht gut lief. Außer seinen Gemälden, Zeichnungen und Radierungen verkauften sie allerlei schöne und seltsame Sachen, für die sie einen guten Riecher hatten.
»Dieses Floraköpfchen?«
»Ja.«
Sie fuhr sich mit den Fingern ins feuchte Haar, um es ein bißchen in Ordnung zu bringen.
»Ich sag’ ihm, er soll übermorgen wiederkommen. Deck dich doch zu!«
Sie hatte sich das Federbett von der Brust geschoben. »Pfff! Mach lieber das Fenster ein bißchen auf. Ich glaube, die singen an der Gracht.«
Während beide einen Augenblick lauschten, hatten sie einander mit dunklem Blick angestarrt.
»Ich höre nichts«, sagte er leise.
Nachmittags hatte er auf ihr Drängen hin noch einen Spaziergang gemacht. Doch vom Abend an war es mit der Angst und dem Überrumpelungsmanöver des Todes wahnsinnig schnell gegangen. Zeit ist so unbegreiflich wie Gott, dachte er, sehr viel unbegreiflicher als Astronomie oder Mathematik. Man kann sie auf gar keine Weise messen. So langsam, wie hier im Laden die Minuten jetzt dahinkriechen, so rasend schnell war es in jener ungefähr sechs Tage dauernden Hölle aus Beulen, Blutungen und wütendem Geschrei zugegangen. Und keine Minute Pause. Keine Sekunde, keine einzige, um den Blick kurz nach oben zu richten – du übertreibst mit deinem Umgang mit der Zeit, Herr, du übertreibst das Geheimnis deines Stils – und danach wieder nach hier unten. Bevor sie wußten, wie ihnen geschah, war die Mittagsstunde gekommen, da er und sein Sohn in der warmen Sonne von der Westerkerk nach Hause zurückspazierten. Weil sie die Beerdigungskosten sofort hatten begleichen wollen, waren Verwandte und Freunde schon vorausgegangen.
»Das macht dann zehn Gulden und dreizehn Stuiver«, hatte der Küster gesagt, nachdem er schnell und präzise zusammengerechnet hatte.
Sie hatten in der Sakristei am Tisch gesessen. Die nächste Leiche wartete währenddessen bereits an der Tür des südlichen Querschiffs. Sanftgrünes und sanftviolettes Licht fiel durch die bunten Scheiben auf das Gesicht des Malers, auf das seines noch immer schluchzenden Sohnes und auf die Hände des Küsters, der davon ausging, daß die beiden eine genaue Aufstellung verlangten.
»Keine Totenpredigt. Kein Glockengeläut. Ein Mietgrab.«
Der Sohn ballte die Fäuste. »Die Kerze …« stieß er hervor.
Ach ja, richtig. Der Küster nickte. Die Zeremonie, von einer Dumpfheit, die Angehörige manchmal vorziehen, wenn sie das ganze Brimborium aus tiefstem Herzen ablehnen, war mit einer kleinen Flamme aufgehellt worden, nachdem der Sohn eine Kerze verlangt hatte. Mühsam, von Weinkrämpfen geschüttelt, hatte der junge Mann sie entzündet.
Der Küster hatte sich bereits erhoben.
»Laß gut sein, die ist da schon drin.«
Als sie nach Hause kamen, war bereits ein Kreuz auf die Tür gemalt worden, und neben dem Fenster im Obergeschoß hingen zwei weiße Stöcke.
Der Maler hob den Kopf und schob seinen Hut zurück. Er fragte den Apotheker, warum die Glocken der Oude Kerk schwiegen. Auf dem Weg hierher, sagte er, habe er es überall läuten hören.
»Weiß ich nicht. Sie läuten einfach nicht. Finden vielleicht die elf Schläge nachher, zu der Stunde, wenn die heutige Hinrichtung beginnen soll, schon mehr als genug.«
7
Sonnenlicht, Stubenlicht
Die Warmoesstraat, die vom Zeedijk bis zum Dam im Herzen der Stadt führt, ist eine schmale Straße mit hohen Häusern, zwischen denen die Sonne nur zur Mittagszeit freien Zugang hat. Dennoch herrschte im Laden das Innenraumlicht, das für Amsterdam charakteristisch ist, auch heute noch, und sich von jedem anderen umschlossenen Licht der Welt unterscheidet. Stubenlicht, wie wir dieses intime Licht nennen, gibt mit seinen fünf an Stärke abnehmenden Stufen sehr genau an, wo und wann ein Schriftsteller am besten schreiben kann, eine Frau am schönsten ist, ein Mann am vernünftigsten nachdenken kann und ein Kind
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