Maler und Mädchen - Maler und Mädchen
Besan durch den Großen Belt.
»Da«, sagte sie und deutete über die Reling auf etwas, was möglicherweise ein Streifen offenes Wasser entlang der Küste der Halbinsel Fünen war.
Wenn ein Schiff nicht kreuzen kann, ist es unmöglich, bei Ostwind durch einen schmalen Korridor offenen Wassers nach Osten zu segeln. Der Hafen von Korsör war unerreichbar, und um den ging es auch schon nicht mehr. Niels Eilschov,am Ruder der Dorothe, war auf der Suche nach einem möglichst sicheren Lande- oder Ankerplatz. Das Treibeis wurde dicker, träger in seinen Bewegungen und von Stunde zu Stunde bedrohlicher.
Er folgte ihrem Blick und schüttelte den Kopf.
»Da«, beharrte sie. »Ich glaube, da fischt ein ganzer Schwarm Blauer Schneegänse.«
Er sah nichts. Außerdem hatte eine Strömung genau hier eine Barriere aus grauweißen fächerförmigen Eisschollen aufgetürmt.
Der Wind frischte auf. Sie kämpften sich bis gut nach Mittag weiter voran. Über dem westlichen Horizont schien ein bläulicher Dunst zu liegen. Von dort kam immer wieder ein Donnern wie von einem Gewitter. Plötzlich gab es einen gewaltigen Stoß, und die zur Hälfte auf ein Eisfeld geworfene Dorothe krängte ungefähr dreißig Grad nach Steuerbord. Niels, der den Matrosen beim Eishacken abgelöst hatte, machte, daß er vom Bugspriet an Bord zurückkam. Elsje sah, daß Blut über den Rand seines Handschuhs tropfte.
»Komm her«, sagte sie, nachdem sie in die Kammer gerannt war.
»Laß mich.«
Sie stand vor ihm, zog den Handschuh herunter und schob den zerrissenen Jackenärmel auseinander. Niels sagte: »Wart!«
Aber was konnte er tun? Die Dorothe wurde mitsamt dem Eisfeld vom Wind nach Westen getrieben. Ohne seinen bereits angeschwollenen weißen Arm loszulassen, bückte sich das Mädchen nach dem Krug, den sie sich zwischen die Füße geklemmt hatte, und goß den kleinen Rest Schnaps, der noch darin war, über den blutenden Schnitt.
Er stöhnte fast obszön. Sie sah ihn verblüfft an.
Ohne auch nur den leisesten Schmerz zu spüren, wandte er den Blick von ihrem hübschen jungen Gesicht ab und der lebensgefährlichen Situation zu, in der er sich mit ihr befand. Das Eis und der Wind schlossen sie ein, verbanden sie, konnten aber auch jeden Moment dafür sorgen, daß sie völlige Fremde füreinander würden. Tote sind Einzelgänger. Sie kümmern sich um niemanden mehr. Woher soll man wissen, was ein Toter fühlt, was sich hinter Gesichtszügen verbirgt, die nie mehr etwas ausdrücken werden?
»Komm«, bedeutete sie ihm, und er streckte den Arm aus. Sie band ein Stück Stoff um die Wunde.
Er blickte derweil zur Seite. Vom Eis ins Schlepptau genommen, steuerte sein Schiff gierig auf ein merkwürdiges, leicht wogendes Gebiet aus glasigen meergrünen Flächen, Höhlen und Brücken zu. Er merkte, daß sie seinem Blick folgte. Sah sie das alles auch? Wenn ja, so waren diese Dinge vielleicht echt, und die 200-Tonnen-Koftjalk konnte wie eine Nuß geknackt werden. Mehr als vier, fünf Minuten brauchte es dafür nicht.
Dazu kam es jedoch vorläufig nicht. Die Sonne begann bereits zu sinken, als sie die kleine Insel zu Gesicht bekamen, die heutzutage Sprogø genannt wird, zu jener Zeit aber Sprov hieß, was die Bewohner der Gegend meist wie »Sprouw« aussprachen. Die drei sahen in der Ferne eine Linie auftauchen, bläulich wie ein Pinselstrich, unterbrochen von weißen Abschnitten, die aufgetürmtes See-Eis sein konnten oder Schnee. Der Matrose, der häufig nach Grönland gefahren war und Luftspiegelungen so normal wie die Wirklichkeit fand, dachte erneut an eine optische Täuschung.
»Nein«, sagte Niels. »Das da ist echt.«
Sein Schiff befand sich in diesem Moment in nahezu offenem Wasser. Gleich nachdem die ganze meergrüne Architektur dort vor seinen Augen doch wieder die Erscheinungsform von Wasser, Schollen und Luft angenommen hatte, war das Eisfeld, mit dem sie abtrieben, in Stücke geborsten. Die brave Dorothe hatte sich aufgerichtet.
»Das da ist echt, ein echtes Stück Erdboden. Seht ihr das Haus? Ich kenne das hier.«
Was er sagte, traf zu. Die kleine Insel Sprov war ein unscheinbarer Streifen Festland im Großen Belt zwischen Nyborg an der einen und Korsör an der anderen Küste. Je nach Ausmaß der Überflutungen, die sie heimsuchten, maß sie zwischen einer und drei Meilen. Die aus Zwaagdijk stammenden Westfriesen, die sie im vergangenen Jahrhundert vom dänischen König in Pacht erhalten hatten, hatten sie trotz des ausgezeichneten
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