Maler und Mädchen - Maler und Mädchen
wieder, was er längst wußte: daß sein Vater eine Schwäche für seinen armen, unbesonnenen verstorbenen Kollegen hatte. Er hielt den Wahnsinn in Seghers Auge absolut nicht für Wahnsinn, sondern im Gegenteil für einen sehr klaren Kompaß. … Ach Junge, schau, so eine Ruine in gelber Tusche vor diesem schwarzen Nichts, diese knallroten Bäume, diese Bergketten am Ende einer Amsterdamer Straße, genau so muß man es machen, natürlich. Da stimmt alles …
So schritten sie langsam an den Wänden entlang. Auch die Möbel wurden vom Gerichtsvollzieher en passant durchFingerzeig aufgerufen und vom Maler allesamt benannt. Sieben spanische Stühle mit grünen Samtsitzen. Ein Tisch aus Fichtenholz. Und wenig später auch die Küchengerätschaften.
»Ein Wasserkrug aus Zinn. Neun irdene Schüsseln.«
Der Beamte und auch der Maler spürten, wie die Kraft des Hauses, das alle diese Dinge beherbergte, von Stunde zu Stunde zunahm.
»Was für eine schwere Arbeit, das alles aufzuschreiben«, sollte der Junge am Abend erstaunt zu seiner Stiefmutter sagen.
Sie, Ricky, hatte die Stimme ihres Mannes vage von einem Gemälde zum anderen und von einem Möbelstück zum anderen verfolgt, zuerst von der Tür des großen Wohnzimmers aus und danach, als sie alle die Treppe hinaufgingen, indem sie im Obergeschoß herumlief und dort irgendwelche unnützen Dinge tat. Nach einem schnellen Mittagessen, das sie und das Dienstmädchen auf den Küchentisch gestellt hatten, war das Kunstzimmer an der Reihe gewesen, und sie hatte einen Ton herausgehört, der ihr neu war.
Wie klingt die Stimme eines Mannes, der den greifbaren Inhalt seines Gedächtnisses hergeben muß?
Der Raum, sehr breit und hoch, enthielt alles, was der Maler im Laufe vieler Jahre um jeden Preis hatte besitzen wollen. An der Decke hingen präparierte fremdländische Tiere, auf einem Tisch lagen gehäutete und gleichfalls präparierte Menschenarme und -beine ausgestellt, und auf drei Regalbrettern an der rückwärtigen Wand standen Gipsabgüsse von griechischen Philosophen und römischen Kaisern bereit, die als Requisiten im angrenzenden Raum, dem Atelier, zum Einsatz kommen sollten, wo die Konzentrationstets so geschärft war, daß man durch den Straßenlärm hindurch das Seufzen und Murmeln des Malers und seiner Schüler hören konnte.
»Gut so«, sagte Bruyningh nach einem Blick auf das, was der Schreiber am kleinen Tisch vor dem Fenster notiert hatte, und wandte sich wieder dem Maler zu.
»Was jetzt?«
Nach der Sammlung an der rückwärtigen Wand verbrachte man weitere zwei Stunden mit dem Benennen und Aufschreiben einer ungeheuren Menge von Meeresgewächsen, Fossilien, Landtieren, ostindischen Nähkästen, Waffen, einem pinkelnden Kind, einer Plastik, darstellend die antike Liebe , und allerlei anderen Raritäten. Dann kam das Schmerzhafteste und Wichtigste: die vielen Bücher mit Bildern und Zeichnungen. Der Maler zeigte und benannte den sehr kostbaren Inhalt, der Schreiber notierte. Ein Buch mit Holtzschnitten von Lucas van Leijden. Ein großes dito mit Zeychnungen verschiedener Meister. Ein dito von Raffael da Urbino …
Kurze Stille, dann, kaum vernehmbar: »Unglaublich schöner Druck.«
… sehr schoener Drukk .
Bruyningh, der sich fragte, ob der Maler todmüde war oder nur traurig, schlug ihm vor, morgen, wenn er ohnehin wiederkäme, weiterzumachen.
Die Antwort kam prompt: »Ein prachtvolles Buch mit dem Werk von Andrea Mantegna.«
Und der Schreiber griff wieder zur Feder. Kosteliches Buch von Andre Mantaigie .
Ricky war in diesem Moment gerade mit Bettwäsche vorbeigegangen. Den Schrank im Wohnzimmer unten hatte sieschon vor Tagen vollgestopft, aber voll ist ein dehnbarer Begriff.
»Dieses Buch«, hörte sie da. »Ja, sehr groß, sehr prachtvoll, das sehen Sie richtig, das sind die Werke von Tizian, Reproduktionen, Radierungen, dieses Buch enthält fast alles, was der Meister während seines langen Lebens geschaffen hat.«
In verhaltenem Ton gesagt, allenfalls ein wenig dumpf. Jammerklagen müssen ja keineswegs immer stilistisch wie Jammerklagen daherkommen. Ganz kurz war ihr, als ob sie bis in die Knie zu Stein würde. Dann kam sie wieder zu sich. Sie beschloß, ins Kunstzimmer zu gehen, weil sich in einem Eckschrank noch etwas befand, das sie fast vergessen hätte.
»Das hier ist ein Folioband mit den Werken von Michelangelo Buonarotti …«
Sie war, zwei Schachteln sizilianischer Obstmesser mit Korallengriffen in den Händen, durch den ganzen Raum
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