Maler und Mädchen - Maler und Mädchen
seinem Sohn hatte, allerdings älter war als dieser jetzt, etwa sechs, sieben Lebensjahre, die dem Jungen in Wirklichkeit nicht mehr vergönnt sein würden, war ihm nicht aufgefallen und sollte ihm auch nie auffallen.
»Du bist nicht einmal böse auf Ihn, was, im nachhinein?« murmelte er, während er gutgelaunt zu seinen Paletten, Farben und Messern auf dem Nebentisch ging. Die Lösung, die er brauchte, war ausgebrütet und hatte sich fast ganz von selbst ergeben.
»Nicht böse? Da täuschen Sie sich aber gewaltig. Und ob ich böse auf Ihn bin!« entgegnete der junge Mann mit dem sympathischen Gesicht und erzählte, er habe nie auch nur das leiseste Verständnis dafür gehabt, daß er unbedingt von seinem Vater auf einem Scheiterhaufen festgebunden werden mußte, daß ihm dessen Hand auf die Augen gedrückt wurden, damit er auf keinen Fall etwas von dem Mord an sich selbst sähe, und im folgenden spüren mußte, wie sein Kopf so weit zurückgedrückt wurde, daß seine Kehle vollständig frei lag, mit genau der richtigen Spannung, um …
»Nun ja, ich fing an, wie ein Schoßhündchen zu zittern. War ja noch ein Kind, verdammt noch mal. Dachten Sie denn, das wird man in seinem Leben je wieder los, diesen Moment, in dem man spürt, daß der eigene Vater auf Seinen Befehl im Begriff ist, einen mit einem Schlachtermesser fachmännisch abzustechen?«
Der Maler kramte, immer wieder über die Schulter schauend, eine Weile in seinen Materialien herum, trat dann wieder auf die Leinwand zu, blieb aber einige Armlängen davon entfernt mit vorgeschobenem Kopf reglos stehen. Sehr wahrscheinlich, daß er in diesem Moment im Geiste einen kurzen Durchgang machte: alles sehen und erfassen mit einem einzigen wachsamen, kühlen Blick. Es war eine Weile nach Mittag, die Sonne schien, von Westen strömte kreidig weißes Licht herein. Sehr wahrscheinlich, daß der Maler in diesem Moment wie ein Schiff auf die Leinwand zusegelte,ein schnittiges, wendiges Schiff, das die Strecke vieler vorangegangener Tage auf ein mal beschleunigt zurücklegt.
Auch das Gesicht der jungen Frau war Zufall. Obwohl sie Ricky überhaupt nicht glich, war dieses Gesicht das liebste gewesen, das ihm eingefallen war.
Sie erkrankte in einer Zeit, in der kein Mensch, kein Mensch, der seine Sinne beisammenhatte, daran zweifelte, daß die Welt den allmächtigen Gott braucht. Von welcher anderen Instanz würde man eine derart unmäßige Strafe hinnehmen? Die Krankheit, deren Namen man tunlichst nicht aussprach, kannte kein Maß, nur ein Tempo. Man sagte: die eilige Krankheit. In Amsterdam war es vorgekommen, daß ganze Wohnviertel zweimal in ein und demselben Sommer bis auf den letzten Bewohner ausstarben. Im Jordaan hatten Weiberhorden auf Leben und Tod miteinander gekämpft, um eine Leichenbahre für ihre Liebsten zu ergattern.
Nach einem fiebrig verbrachten Vormittag, an dem Ricky dann und wann etwas verwirrt gewesen war, hatte sie sich zu Beginn dieses ersten Nachmittags sehr nüchtern gezeigt. Einer ihrer spontanen Anwandlungen – »Geh doch mal ein bißchen raus« – hatte der Maler nur zu gern Folge geleistet. Wenn sich die Möglichkeit einer tödlichen Krankheit ankündigt, stehen jedem Betroffenen zwei Lösungswege offen. Der erste ist der schönere. Es ist nicht … das. Sie hat das nicht. Ganz bestimmt nicht! Als sie, im Bett, ihren Mann für ein paar Stündchen fortschickte, hörte er folglich ausschließlich das Liebe in ihrer Stimme, das Alltägliche. Jeder hat mal eine kleine Grippe.
»Du siehst doch, wie schön das Wetter endlich gewordenist? Meine Güte, nach dem ganzen Regen! Grüß mir die schöne frische Luft da draußen.«
Als er nicht antwortete und sie nur anstarrte, rollte sie den Kopf sacht auf dem Kissen hin und her, beschwichtigend, auch gegenüber sich selbst. Das Unheil würde sich schon zurückhalten. Kann ich einen Apfel haben, fragte sie noch. Als er ihr den brachte, auf einem Teller, hatte sie sich etwas aufgerichtet. »Schick mir mal eben die Mie Magdaleen.«
»Gut«, sagte er abwesend.
Sie strich sich mit allen zehn Fingern die Haare aus dem Gesicht und sah ihn dabei so feurig an, als sprächen sie über irgend etwas Gewaltiges, sie beide. Dann plötzlich ein behagliches Lächeln.
»Wir warten auf dich, hörst du, mit dem Essen.«
Intimes Gespräch, ihr letztes.
Eine Viertelstunde später streifte er durch die Felder. Dort kommt man von seinem Zuhause ganz bequem hin. Man geht die Rozengracht hinunter, überquert die
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