Maler und Mädchen - Maler und Mädchen
Dank seltensten war es, wenn das Ritual,mit Sorgfalt ausgedacht und sacht sanktioniert durch all die Male, in denen es so, genau so vollzogen worden war, derart mit Füßen getreten wurde, wie dieses Mädchen es sich nun erlaubte.
Sie kämpfte.
Elsje Christiaens hatte sich losgerissen. Plötzlich hatte sie ihren kleinen Körper wie eine Puppenspielfigur an ein paar Fäden aufgerichtet, die Arme aus dem Griff der überrumpelten Wärter befreit und dem roten Lockenkopf treffsicher ans Schienbein getreten. Der Junge nahm es hin. Ließ einfach die Arme hängen. Stellte alles ein – er ja, das Mädchen nicht. Jedes Ritual verfolgt die Absicht, die Wirklichkeit auf ein Nebengleis zu schieben. Zeit und Raum verhalten sich anders als sonst. Das Bewußtsein ist wie betäubt. Es bleibt ein erstaunliches Phänomen, daß ein Mensch, als einziger unter den Tieren, sich im Angesicht eines angekündigten Todes so brav dem vorgeschriebenen Protokoll fügt. Kein Schaf, kein Lamm würde das tun. Das Mädchen stand jetzt mit ausgefahrenen Krallen da und kreischte aus voller Kehle.
Der Maler hatte den niedergeschlagenen, unruhigen Blick seines Sohnes fast körperlich auf seinen Händen gespürt.
»Na ja«, hatte dieser gesagt. »Meiner Meinung nach ging sie eigentlich nur auf den Jüngeren los.«
Es war kurz nach zwei gewesen. Er und sein Sohn waren zu Genever übergegangen, mit lauem Bier verdünnt. Das klare Mittagslicht fiel durch das Fenster auf der Straßenseite herein und beschien den Tisch mit den Bechern, den Äpfeln, den Pfeifen und den für vier detaillierte, sehr fein mit dem Stichel eingeritzte Kreuzwegstationen bestens geeignetenKupferplatten, die der Sohn nach der Hinrichtung doch noch abgeholt hatte.
Der Sohn sah auf.
»Nur auf den Jüngeren«, betonte er. Es war zu erkennen, daß er noch etwas sagen wollte, doch er schwieg, weil ein Strom von Gedanken ihn beschäftigte.
»Natürlich«, hatte er dann ernst hinzugefügt.
Die Sache hatte für reichlich Konsternation gesorgt. Die gesamte Bilanz der Männerangelegenheit an diesem Vormittag durcheinandergebracht von einem achtzehnjährigen Ding, na gut, immerhin einer Mörderin. Für ein richtiges Handgemenge war natürlich kaum Zeit gewesen. Der Vor-fall spielte sich binnen höchstens zehn Sekunden ab, was ausreichen kann, um ihn zu sehen und nie mehr zu vergessen. Strenggenommen war es auch kein Handgemenge. Man sah, jedermann sah, wie Elsje Christiaens mit ihren Fingernägeln über das Gesicht des jungen Gefängniswärters fuhr und daß dieser, Simon, sich nicht wehrte. Unter den Zuschauern gab es einige, die zu verstehen versuchten, warum sie das verstanden. Das tobende Mädchen. Und der rote Lockenkopf, der sie gewähren ließ. Inzwischen hatten die beiden Henkersknechte die Situation natürlich bereits im Griff. Während Simon, auf den kein Mensch mehr achtete, wieder in den Justizraum stolperte, wurde das Mädchen, mit dem er in der Nacht und am Morgen beim Bickelspiel beisammengesessen hatte, zur Vorderseite des Rathauses gebracht.
Sehr großes Interesse jetzt. Entsetzen, ja, wirklich, und auch hier und da Scham, vor allem jedoch düstere Genugtuung, die wir nicht zu unterdrücken brauchen, wenn ein Mitgeschöpfsich einer absurden Gewalt ausgesetzt sieht, die erstens gerechtfertigt ist und zweitens von denen angewandt wird, die über uns stehen. Man schaute zu, mit gottesfürchtiger, anständiger Erregung, gestützt durch das Recht der amtierenden Macht. Elsje wurde von den Knechten resolut mitgezerrt. Ob ihre kleinen Füße mitlaufen wollten oder nicht, es ging unwiderruflich in Richtung des Stuhls mit der niedrigen Rückenlehne, der auf einem kleinen Podest stand, an einem Stück aus dem Norden importierten Baumstamms von der Sorte, auf der hier die ganze Stadt gegründet ist. Sie schaute schon längst nirgends mehr hin, sah nichts mehr, spürte jedoch die Welt auf ihrer Haut. Sie bockte und schrie. Bocken ist die erste Lebensvoraussetzung, wenn man festgehalten wird; läßt man den stählernen Griff um seinen Leib zu, dann ist es vorbei. Und schreien kann unter diversen Umständen sehr nützlich sein, das schmerzbetäubende Schreien und Kreischen gehört zum Frauenkörper. »Sei still!« wird in diesem Moment vielleicht in einem der umstehenden Häuser zu einer Frau gesagt, die mit vorstehendem Bauch und hin und her rollendem Kopf im Bett liegt. »Spar dir die Kraft für die eigentliche Arbeit auf. Noch einen Moment, dann darfst du es
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