Maler und Mädchen - Maler und Mädchen
sie einen Putzlappen holen mußte. Erbrochenes und Anismilch tropften vom Bettzeug auf den Boden.
Der Maler stand mit dem Gesicht zu der Diebestasche. Er trug noch seinen alten Morgenrock und die Pantoffeln, seine bevorzugte Arbeitskleidung für drinnen, die er gleich gegen die Hose und Schuhe tauschen würde, in denen er am Vormittag in die Stadt gegangen war. Die Glocke von gegenüber hatte gerade wieder die Viertelstunde geschlagen. Es war noch ziemlich früh am Nachmittag, das Licht noch geeignet, im Atelier zu arbeiten. Der Maler rieb sich in Gedanken übers Kinn, hinter seinem Rücken ein Bild mit einem stillen Liebespaar, in sich selbst und ineinander versunken, nahezu reglos, doch mit einer Farboberfläche versehen, die aussah wie von einem Verrückten mit Messer und Pinsel hingeknallt. Er ging zur Tür, nahm die Tasche vom Haken und packte ein.
Papier.
Feine Pinsel.
Schwarze, rote und weiße Kreide.
Brettchen.
Wasser.
Gebundenes Büchlein mit präparierten Blättern aus abwaschbarem Pergament.
Gänsekiel, Rohrfeder, Metallfeder.
Braune und schwarze Tusche.
26
Die Häßlichkeit
Der Maler ging die Prinsengracht entlang, auf dem Weg, ein totes Mädchen zu zeichnen. Maler können darstellen, was sie wollen. Denken sie sich etwas aus, einfach im Atelier, dann nennen sie das: aus der Phantasie malen. Bilden sie etwas ab, was genau so in Wirklichkeit existiert und das sie mit eigenen Augen gesehen haben, dann sagen sie, es ist nach dem Leben gemalt. Der Maler war auf dem Weg, ein totes Mädchen nach dem Leben zu zeichnen.
Das Besondere ihrer Situation bestand nicht sosehr darin, daß sie tot war – was ist daran schon Besonderes? –, sondern daß sie getötet worden war, und damit hatte Gott ausnahmsweise nichts zu tun gehabt. Es war ausnahmsweise nicht der Bezeichnete selbst gewesen, die Höchste Autorität, die Hand an sie gelegt hatte, nein, sie wurde auf Anordnung redlicher Geschäftsleute am Ende einer nicht völlig makellos verlaufenen Zeremonie, schade, am Pfahl erdrosselt, bis der Tod, dieser Tod, eintrat. Wer würde denn ein so furchtbar häßliches Motiv zeichnen wollen?
Der Maler folgte dem nördlichen Bogen der Prinsengracht, die bei den Kais am IJ endet. Dort wollte er ein Boot nehmen.
Schönes Wetter. Gutes Wetter, um draußen zu zeichnen. Die meisten Amsterdamer, die ihn, ein wenig gebeugt, vorbeigehensahen, erkannten ihn, den alt gewordenen Künstler, nicht mehr groß in Mode, aber noch immer sehr angesehen. Und nicht zu vergessen: teuer! Am Goldstandard seiner Werke, um es mal so zu nennen, hatte er stets halsstarrig festgehalten, nach dem Konkurs darin mindestens ebenso halsstarrig unterstützt von seinen Sachwaltern, dem Sohn und der verstorbenen Hausfrau.
Beim Wirtshaus an der Ecke Brouwersgracht standen die Gäste draußen. Durch die offene Tür konnte man eine Theke voller Bierpfützen sehen, doch niemand hatte Lust, bei diesem Wetter drinnen zu sitzen.
»Hallo, Maler. Gehst du zum Bollwerk?«
Keine abwegige Frage. Die Befestigung des nahe gelegenen Stadtwalls, eine von insgesamt vierundzwanzig, war ein beliebter Ausguck, fünf Meter hoch, von dem aus der Stadtmensch sich gerne mal ansah, wie die Leere aussah. Leer, überhaupt nichts. Eine ebene Fläche, das Knarzen der ewigen Mühlen, die man auf allen diesen Bollwerken findet, und der Geruch von überschwemmtem Land. Was diese umherstreunenden Künstler da nur suchten?
Er überquerte die Brücke und kam zum Beginn des Spaarndammerdijk, den er schon oft mit größtem Vergnügen entlanggewandert war. Diesmal ließ er auch den Deich links liegen. Die alte Strecke, die sich kurvig, einem Aal gleich, entlang dem Sloterdijkpolder nach Haarlem und Bloemendaal schlängelte, nahm sich jetzt kümmerlich aus gegen den Weg, der schnurgerade entlang der hypermodernen Wasserstraße zum Treideln der Schiffe etwas weiter landeinwärts verlief.
Doch er gab alten Dingen den Vorzug.
Den halbverfallenen kleinen Bauernhöfen auf der Innenseitedes Unterdeichs, mit Feder und Pinsel in Braun und Fahlviolett. Einem Mann, mit schwarzer Kreide und gräulichem Pinsel, der auf weiß der Himmel was steht und in dem Wasser angelt, das nach einem der hoffnungslosen Deichdurchbrüche, die dieses Gebiet immer wieder heimsuchen, seinen Hinterhof erreicht hat. Den schiefen Zäunen, zerzausten Bäumen, Mühlenrümpfen, Kuhschädeln im Vordergrund einer absackenden Kate, die er allesamt mit der Kaltnadel spiegelbildlich auf ein paar Platten verewigen
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