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Maler und Mädchen - Maler und Mädchen

Titel: Maler und Mädchen - Maler und Mädchen Kostenlos Bücher Online Lesen
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einem wunderbaren Maivormittag. Die Glockenschläge der Kirchen in der Umgebung waren bereits von dem per Verordnung vorgeschriebenen Läuten abgelöst worden, das jedes andere Geräusch im Umkreis des Platzes recht gut zu übertönen vermag, freilich nicht immer. Die höchsten Laute der weiblichen Kopfstimme durchdringen alles. Die Zuschauer atmeten auf – da war sie – und schauderten kurz danach aus einem tiefen, zusätzlichen Interesse heraus, als sie merkten, daß die kleine Gestalt da oben Protest anmeldete.
    Das Rathaus ist ein Gebäude mit einem außerordentlich starken eigenen Willen. Eines der Mittel, mit denen es diesen Willen durchsetzt, ist die Perspektive, die von einem Linsenschleifer berechnet zu sein scheint, von einem Linsenschleifer oder einem Philosophen. Schaut man von den Fenstern oder von einem häßlichen, vor die Fassade gebauten Brettersteg aus Richtung Platz, dann sieht man die Stadt, als habe man sie mit einem Vergrößerungsglas zu sich herangeholt. Steht man dagegen auf dem Platz, sollte man tunlichstscharfe Augen besitzen. Auch eine gesunde Dosis Vorstellungskraft ist nicht verkehrt, um die Verrichtungen auf dem Schafott anständig verfolgen zu können. Vorstellungskraft macht mitfühlend, sogar poetisch. Aber – Mitgefühl für ein Mädchen, das schon fast nicht mehr von Fleisch und Blut ist?
    Augen geschlossen, Augen wieder geöffnet. Das haben die Zuschauer trotz der trügerischen Entfernung genau sehen können. Was sie nicht gesehen haben, in einem Meer von Sonne, waren die Möwen, die Schiffe, die Gebäude, die dich groß, ewig, in klaren, frischen Farben gestrichen, umschließen, und auch die Gesichter haben sie nicht gesehen, bleich und sprachlos, die dich ganz aus der Nähe beäugen, einige mit der Hand über den Augen. Dies sind die Gesichter, an denen du tagelang vergebens vorbeigegangen bist, nach dem einen Gesicht spähend, suchend, das zählt. Heute erwidern sie alle deinen Blick.
    Amsterdam verfügte in jener Zeit über zwei Straßenlaternen. Es waren schöne, neumodische Dinger, von einem Kunstmaler erdacht, die in der Abenddämmerung angezündet wurden und dann die ganze Nacht über brannten. Eine davon stand genau vor dem Rathaus. In diesem Moment war, natürlich, ein kleiner Junge hinaufgeklettert. Kein unsympathisches Kind, keineswegs. Versessen aufs Kaputtmachen wie alle Kinder, bat dieser ungeformte junge Charakter meist mit höflicher Stimme um Erlaubnis dazu. »Darf ich sie knacken?« fragte er, wenn seine Mutter irgendeinen Teig anrührte, für den sie ein Dutzend Eier gebraucht hatte. Und nahm, wenn sie nickte, die schleimig-zerbrechlichen Eierschalen von der Anrichte in seine begierigen Fäustchen. Als Elsje Christiaens ganz kurz den überaus neugierigenBlick des Rattenschnäuzchens auffing, schrie sie schon los, interessierte sich nicht mehr im geringsten für die kleine Zunge, die sich voller Spannung an die Oberlippe drückte, weil sie jetzt mit den Gefängniswärtern kämpfte.
    Das Schafott hatte man am Abend zuvor in L-Form an den vorspringenden Teil des ersten Stockwerks gezimmert. In dem Moment, als das Mädchen die Wärter angriff, befand sie sich noch auf der kurzen Seite, von der Außenwand des Justizraums abgeschirmt. Von dort konnte sie nicht sehen, daß ihre Raserei im Begriff war, sich auf ein paar andere Hände zu übertragen, und hätte sie es sehen können, dann hätte es sie kaltgelassen. Die beiden Henkersknechte hatten sich bereits in Bewegung gesetzt, auf der Frontseite des Schafotts, wo sie im Auftrag ihres Chefs die ganze Szenerie für die bevorstehende Unternehmung aufgebaut hatten, Pfahl, Podest, Stuhl und Strick. Dies alles war bereits von den Zuschauern wahrgenommen worden und auch, noch viel schärfer, von den Männern, die ganz in der Nähe vor den geöffneten Fenstern auf ihren vorgeschriebenen Plätzen warteten, nicht aber von dem Mädchen.
    Und wie sie sich trotzdem die Kehle aus dem Hals schrie! Aufgrund der eigenwilligen Akustik des Rathauses war das Mädchen vor allem von den Männern an den Fenstern durch das Glockenläuten hindurch zu hören. Das Protokoll schrieb vor, daß das vollzählige Gericht, die neun Schöffen und der Schultheiß, sich die Tötung der Verurteilten anzusehen hatte. Die meisten fanden das nicht angenehm. Und schon gar nicht, wenn das Kind des Todes sich in den letzten Lebensmomenten danebenbenahm. Es gab welche, die sangen, die lachten, die gottserbärmlich fluchten. Am ärgerlichsten und Gott sei

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