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Malevil

Malevil

Titel: Malevil Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: R Merle
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Fensterkreuze sitzen
     und das kleine Handbuch des Bogenschießens büffeln, das Birgitta mich hatte kaufen lassen und das ich selbst niemals geöffnet
     hatte. Kurzum, der kleine Colin wurde unser großer Bogenschütze. Ich fing an, ihn so zu nennen, und merkte stets, welches
     Vergnügen ihm das Wort »groß«, selbst im übertragenen Sinne, bereitete.
    Meyssonnier bewog er, unter seiner Mitwirkung drei weitere Bogen in Bau zu nehmen. Jeder, meinte er, sollte seinen eigenen
     haben, und wir konnten ihn darüber klagen hören, daß er nicht seine kleine Schmiede aus La Roque hier hatte (wo er Schlosserei
     und Klempnerei betrieb), um für uns Pfeilspitzen herzustellen. Ich ermutigte ihn in allen seinen Vorhaben, denn ich dachte
     an die Zeit, in der uns, ohne Patronen und ohne Mittel, welche herzustellen, unsere Flinten nichts mehr nützen würden, während
     aller Wahrscheinlichkeit nach die Gewalttätigkeit nicht mangels Feuerwaffen verschwinden würde.
    Schon war ein Monat vergangen, seit Momo in der Morgendämmerung die Glocke geläutet hatte, um die Geburt der Zwillinge von
     Marquise zu verkünden, als eines Abends gegen sieben Uhr – ich wollte gerade mein Turmzimmer verschließen und mit der Bibel
     unterm Arm in den Wohnbau hinuntergehen, Thomas stand schon auf dem Treppenabsatz und sagte zu mir: Du hast alles von einem
     heiligen Mann an dir – plötzlich wiederum die Glocke ertönte, und zwar nicht in voller Stärke wie damals, sondern mit zwei
     gewichtigen Anschlägen und einem dritten schwächeren, der die Stille, die folgte, ungewöhnlich und drückend machte. Ich blieb
     stehen. Das konnte nicht Momo sein. Es war nicht sein Stil. Ich machte die Tür wieder auf, legte die Bibel auf den Tisch zurück,
     nahm meinen Karabiner und reichte auch Thomas eine Flinte.
    |221| Ohne ein Wort, indes mich Thomas mit seinen langen Schritten bald überholte, rannte ich zum Torbau. Er war leer. Die Menou
     und Momo befanden sich wahrscheinlich schon im Wohnbau, sie, um das Abendessen zu bereiten, er in der Hoffnung, etwas zum
     Naschen zu kriegen. Colin und Peyssou, die an diesem Abend im Torbau schlafen sollten, waren keineswegs verpflichtet, sich
     auch tagsüber dort aufzuhalten. Während ich im Laufschritt die verlassenen Räume des Torbaus durchsuchte und Thomas draußen
     blieb, um das Tor zu überwachen, wurde mir klar, wie unzureichend unsere Sicherheitsvorschriften waren. Die Mauern des äußeren
     Walls, viel niedriger als die des inneren, waren mittels einer Leiter oder eines mit Enterhaken versehenen Seiles zu überwinden.
     Die Wallgräben waren nicht, wie die des inneren Burgrings, über eine Zugbrücke zu passieren, sondern über eine Brücke, die
     es möglich machte, an den Fuß der Umwallung heranzukommen und sie zu erklettern, während wir alle miteinander beim Abendessen
     im Wohnbau saßen.
    Ich kam aus dem Torbau zurück und forderte Thomas mit leiser Stimme auf, die Treppe zur Wallmauer hinaufzusteigen und durch
     die Pechnasen, die über das Portal hinausragten, den oder die Besucher von oben her aufs Korn zu nehmen. Ich wartete, bis
     er an Ort und Stelle war, schlich dann auf leisen Sohlen an das Guckloch heran, zog es geräuschlos zwei oder drei Millimeter
     auf und näherte vorsichtig mein Auge.
    Ungefähr einen Meter von mir entfernt – die Brücke hatte er demnach schon überschritten – sah ich einen etwa vierzigjährigen
     Mann, der auf einem großen grauen Esel ritt und hinter dessen linker Schulter der Lauf seiner übergehängten Flinte hervorragte.
     Er war barhäuptig, an Haut und Haar tief brünett und mit einem ziemlich verstaubten anthrazitfarbenen Anzug bekleidet. Darüber
     trug er nach Art der Bischöfe an einer Halskette ein silbernes Brustkreuz. Er kam mir groß und kräftig vor. Seine Physiognomie
     drückte tiefste Gemütsruhe aus, und ich beobachtete, daß er keine Miene verzog, als er, den Blick zu den Pechnasen hebend,
     Thomas gewahrte, der auf ihn anlegte.
    Ich zog das Guckloch geräuschvoll bis zum Anschlag auf und rief mit lauter Stimme: »Was willst du?«
    Der grobe Ton blieb ohne Wirkung auf den Besucher. Er fuhr nicht zusammen. Er blickte auf das Guckloch und sagte mit tiefer,
     wohlklingender Stimme: »Ich will euch besuchen |222| und diese Nacht in der Burg schlafen. Ich möchte den Weg, den ich eben hinter mir habe, in der Nacht nicht noch einmal zurücklegen.«
    Ich bemerkte, daß er sich gut, sogar gewählt ausdrückte, sorgfältig und mit einem Akzent

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