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Malevil

Malevil

Titel: Malevil Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: R Merle
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ihre Heirat ankündigte, dieses Foto noch aufbewahrt hat.)
    Auch über die »Intelligenz« Miettes teile ich nicht Emmanuels Ansicht. Miette ist frühgeboren, stumm von Geburt, was bedeutet,
     daß ihr Gehirn eine Verletzung aufweist, welche die Ausbildung des Sprechens verhindert hat, was wiederum ihren Begriff von
     der Welt verarmen lassen mußte. Ich unterstelle nicht, Miette sei idiotisch oder auch nur debil, denn Emmanuel hätte leichtes
     Spiel, all die Fälle anzuführen, in denen Miette Feingefühl in den menschlichen Beziehungen bewiesen hat. Aber davon ausgehend
     zu behaupten, Miette sei »sehr intelligent«, wie mir (als ein weiteres Beispiel sexueller Überbewertung) Emmanuel wiederholt
     versichert hat, ist ein Schritt, dem ich für mein Teil nicht folgen werde. Miette ist, wenngleich |225| feinsinnig, dennoch sehr naiv. Wie die Kinder begreift sie die Realität nur halb. Der Rest ist Traum und Roman ohne irgendwelche
     Beziehung zu den Tatsachen.
    Man wird vielleicht glauben, daß ich Miette nicht mag. Im Gegenteil, ich schätze sie sehr. Sie ist großherzig, von Güte durchdrungen,
     und nicht das kleinste Teilchen Egoismus hat in ihr Platz. Wenn ich an so gefährliche Narreteien glaubte, würde ich sagen,
     sie hat das Zeug zu einer Heiligen, nur daß sich ihre Güte auf einer Ebene auswirkt, die gemeinhin nicht die einer Heiligen
     ist.
    Am Tage nach der Beratung, in der Emmanuel mit seinem Plan der Vielmännerei überstimmt worden war, gab es in Malevil einen
     gewissen Schwebezustand, denn wir hätten gern gewußt, welchen »Gatten« (Meyssonnier) oder »Partner« (Emma nuel ) Miette wählen würde. Das ging, wie Emmanuel richtig bemerkt hat, so weit, daß sich keiner von uns mehr getraute, sie anzusehen,
     weil er befürchtete, den Anschein zu erwecken, er wolle über die andern den Sieg davontragen. Was für ein Gegensatz zu den
     Blicken, mit denen wir sie noch am Abend zuvor schamlos durchbohrt hatten!
    Ich kann nicht sagen, was Miette von unserer plötzlichen Zurückhaltung dachte. Sie hat »durchsichtige und unauslotbare« Kinderaugen
     (ich zitiere Emmanuel aus dem nächsten Kapitel). Dennoch muß ich anmerken, daß der große Peyssou, freimütiger als wir anderen,
     am zweiten Tag des Umzugs aus dem Etang resigniert bemerkte, offensichtlich werde »sie« Emmanuel wählen. Gesagt wurde das
     in Gegenwart von Colin, Meyssonnier und mir, während die Neuen im Höhlenmenschenhaus mit dem Packen ihrer Sachen beschäftigt
     waren. Nicht ohne Betrübnis äußerten wir drei die Meinung, das sei in der Tat offensichtlich.
    Der Abend kam. Nach der Mahlzeit wurde wieder aus der Bibel vorgelesen, diesmal vor drei inbrünstigen Zuhörern mehr, aber,
     fürchte ich, ohne große Aufmerksamkeit von seiten der Gefährten. Emmanuel lehnte abwechselnd an einem der beiden Kaminsockel,
     und Miette, im Gesicht und am Körper angestrahlt und gerötet von den tanzenden Flammen der Feuerstelle, saß in der Mitte des
     Halbkreises. Ich erinnere mich an diesen Abend, an meine Erwartung – an unsere Erwartung, sollte ich sagen –, und auch daran,
     wie sehr mich Emmanuels Stimme, wiewohl |226| warm und recht wohlklingend, durch ihren langsamen Vortrag zur Verzweiflung brachte. Ich weiß nicht, lag es an der Ermüdung
     nach dem langen Tag, an der nervösen Erregung durch die Ungewißheit oder an der Begünstigung durch das Halbdunkel – die Zurückhaltung,
     zu der wir uns während des Tages gezwungen hatten, war jedenfalls geschwunden. Wir alle hatten uns mit den Augen an Miette
     festgesogen, die, völlig entspannt und aufmerksam zuhörend, in allen ihren Kurven vor uns saß. Dennoch gab sie sich nicht
     den Anschein, unsere Blicke zu übersehen. Von Zeit zu Zeit ließ sie ihre Augen auf uns ruhen und lächelte. Auf diese Weise
     lächelte sie jeden von uns an, wurde sie allen gerecht. Emmanuel hat schon von ihrem Lächeln gesprochen, und es stimmt, daß
     es sehr anziehend war, wenn auch unterschiedslos für alle.
    Am Ende des Abends stand Miette mit vollkommener Natürlichkeit auf, nahm Peyssou bei der Hand und ging mit ihm hoch.
    Peyssou, glaube ich, war sehr froh, daß bereits Asche über dem Feuer lag und wenig Licht in dem großen Saal war. Glücklicher
     noch, daß er uns den Rücken kehren und sein Gesicht vor uns verbergen konnte. Wir aber blieben betroffen und schweigend am
     Feuer stehen, während die Menou, Schmähungen für die Zukurzgekommenen brummelnd, unsere Lämpchen anzündete.
    Die

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