Malevil
dankbar auf den weitläufigen Proportionen
der Wikingerin ergehen.
Pimont scheint mir minder verfemt zu sein. Ich sehe ihn mit zwei Männern im Gespräch, die mir wie Landwirte vorkommen. Ich
schaue mich nach Agnès um. Dort ist sie. Colin, der Morgane dem schweigenden, nervösen Thomas anvertraut hat und Mélusine
nur mit großer Mühe festhält, findet trotzdem noch die Möglichkeit, mit Agnès ein sehr angeregtes Gespräch zu führen. Einstmals
sind wir Rivalen gewesen. Er hat sich selbst zurückgezogen und dann, wie Racine sagt, »sein Herz woandershin getragen«. So
daß Agnès, als ich mich von ihr zurückzog, ohne Verehrer dastand, nachdem sie zwei gehabt hatte. Zum Sauerwerden, wenn sie
der Säuerlichkeit fähig gewesen wäre. Während sie sich vor Mélusine in acht nimmt und Miette ihr Baby hätschelt, erweist sie
Colin eine Menge Liebenswürdigkeiten. Seltsam, daß ich keinerlei Eifersucht verspüre. Die Erregung, die ich empfand, als ich
sie wiedersah, ist bereits erloschen.
|329| Ich lasse Marcel stehen und trete an Thomas heran. »Du wirst Morgane reiten«, sage ich leise.
Bestürzt schaut er mich, schaut er Morgane an.
»Du bist verrückt! Nicht nach dem, was ich gesehen habe!«
»Nichts als Zirkus, was du gesehen hast. Morgane ist fromm wie ein Lamm.«
Mit ein paar Worten erkläre ich ihm, welche Zeichen er
nicht geben
darf, und da Malabar nicht mehr zu halten ist, nehme ich Colin Mélusine ab, sitze auf und suche, von Thomas sogleich gefolgt,
ein wenig Vorsprung zu gewinnen. Sobald wir die erste Wegbiegung erreichen, falle ich wieder in Schritt, denn es ist zu befürchten,
Malabar würde zu schnell laufen, wenn er die Stuten aus den Augen verlöre. Thomas reitet sofort zu mir auf und wendet mir,
ohne ein Wort zu sagen, ein Gesicht zu, in dem nichts mehr von seiner Kaltblütigkeit übrig ist.
»Thomas?«
»Ja«, sagt er verhalten, aber glühend vor Erwartung.
»An der nächsten Biegung wirst du Morgane in Trab setzen und vorausreiten. Fünf Kilometer von hier ist eine Wegkreuzung mit
einem steinernen Kreuz. Dort wirst du mich erwarten.«
»Immer noch Geheimnisse«, sagt Thomas verstimmt, spornt Morgane aber trotzdem ein wenig an. Sofort ist sie in ihrem geölten
Trab auf und davon.
Nach etwas Überlegung hole ich ihn ein.
»Thomas?«
»Ja?« (Noch immer übellaunig und ohne mich anzusehen.)
»Wenn du etwas siehst, was dich überrascht, denk daran, daß du auf Morgane reitest, und hebe nicht den rechten Arm. Du würdest
dich auf dem Erdboden wiederfinden.«
Er schaut mich erstarrt an, dann begreift er. Sofort hellt sein Gesicht sich auf, seine Angst vor Morgane ist vergessen, und
er setzt sich in Galopp. Der Spinner! Auf der beschotterten Straße! Wenn er wenigstens den Sommerweg genommen hätte!
Mélusine halte ich zurück. Malabar, fünfzig Meter hinter mir, kommt an ein kurz abwärts führendes Wegstück, und es ist nicht
der geeignete Moment, ihn zu allzu raschem Traben zu veranlassen. Ich bin nicht unzufrieden, allein zu sein, um unseren kurzen
Besuch in La Roque zu überdenken. Kaum fünfzehn Kilometer von Malevil. Und eine andere Welt. Ein anderer Typus von Organisation.
Der ganze untere Ortsteil, den die Felswand |330| nicht oder nicht genügend geschützt hat, zerstört. Drei Viertel der Bevölkerung vernichtet. Keine Spur von einem Gemeinschaftsleben,
wie Marcel richtig erkannt hat. Hunger, Beschäftigungslosigkeit, Tyrannei. Und überdies Unsicherheit. Ein fester Platz, trotz
seiner guten Befestigung schlecht verteidigt. Genügend Waffen, aber man wagt nicht, sie auszugeben. Die reichsten Böden im
Bezirk, aber man wird die Erzeugnisse, die sie tragen werden, ohne Gerechtigkeit verteilen. Eine unglückliche, ausgehungerte,
uneinige kleine Ortschaft, deren Überlebenschancen gering sind.
Ich fürchte die Leute von La Roque nicht mehr. Ich weiß jetzt, Fulbert wird sie niemals gegen mich auf die Beine bringen.
Aber um sie habe ich Angst, ich beklage sie. Und in diesem Moment, von Mélusines Trab rhythmisch getragen, fasse ich den Entschluß,
ihnen in den Wochen und Monaten, die da kommen werden, mit allen meinen Kräften beizustehen.
Mein Blick, der auf die Zügel fällt, ist überrascht, meine Hand ohne Siegelring zu finden. Die Szene in der Box fällt mir
wieder ein. Was für ein Dummkopf, dieser Armand! Das war soviel, als hätte ich ihm einen Kieselstein geschenkt. Wie wenn Gold,
zwei Monate nach dem Tag des Ereignisses,
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