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Malevil

Malevil

Titel: Malevil Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: R Merle
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die Füße nackt. Sie hat die Steinfliesen im Wohnbau aufgewaschen und sich
     nicht Zeit genommen, die Schuhe wieder anzuziehen. Ich schaue auf ihre nackten Füße auf dem Hofpflaster, dann auf ihr prachtvolles
     schwarzes Haar und schließlich auf ihre so sanften Augen. Dann kehrt mein Blick zu den Füßen zurück. Sie rühren mich, obwohl
     sie an sich nichts Rührendes haben: Sie sind breit und derb. Eher vervollständigen sie, da sie nackt sind, das Bild des Kindes
     aus wilder Vorzeit, das Miette heute für mich darstellt: die Eva der Steinzeit, die aus der Tiefe der Vergangenheit zu mir
     zurückkehrt. Eine blödsinnige Idee. Sexuelle Überbewertung, würde Thomas sagen. Als ließe er es, gerade jetzt, an Überbewertung
     fehlen!
    »Miette, bist du böse?«
    Sie schüttelt den Kopf. Sie ist nicht böse.
    »Was hast du denn?«
    Neuerliche Verneinung. Sie hat nichts.
    »Hör mal, Miette, du hast mich vorhin so seltsam angeblickt.«
    Folgsam und verschlossen steht sie vor mir.
    »Sag mir doch, Miette, was dir fehlt!«
    In ihrem Blick, der sanft auf mich gerichtet ist, scheint mir ein leichter Vorwurf zu liegen.
    »Aber schau, Miette, erkläre mir, was ist los?«
    Sie sieht mich an, läßt die Arme herabhängen. Keine Gebärde, kein Mienenspiel. Sie ist doppelt stumm.
    »Miette, du mußt mir sagen, wenn etwas nicht in Ordnung ist, du weißt, daß ich dich sehr liebhabe.«
    Sie nickt ernst mit dem Kopf. Sie weiß es.
    »Nun?«
    Keine Regung.
    |355| »Miette?«
    Ich fasse sie an beiden Schultern, nähere mich ihr und küsse sie auf die Wange. Nun, auf einmal, wirft sie ihre Arme um mich,
     drückt mich fest an sich, doch ohne mich zu küssen, macht sich sofort los, läßt mich stehen und läuft ins Haus zurück.
    Die Szene ist so rasch beendet, daß ich noch einige Sekunden auf die schwere Eichentür starre, die wieder zu schließen sie
     sich nicht Zeit genommen hat.
    Wenn ich an die zwei Monate zurückdenke, die auf diesen Morgen folgten, wundere ich mich am meisten, wie langsam sie vergangen
     sind. An Tätigkeiten hat es uns ganz gewiß nicht gefehlt: Schießen, Reiten, Höherziehen der Wallmauer des äußeren Befestigungsringes
     (wir alle dienten dem großen Peyssou als Handlanger), für mich noch dazu Gymnastikstunden sowie Unterricht in Orthographie
     und Rechnen für Evelyne.
    Wir sind sehr beschäftigt, und trotzdem drängt uns nichts zur Eile. Wir verfügen über lange Mußezeiten. Der Rhythmus des Lebens
     ist langsam. Die Tage erscheinen uns, obwohl sie die gleiche Stundenzahl haben, sonderbarerweise unendlich viel länger. Alle
     jene Apparaturen, dafür gedacht, die tägliche Arbeit zu erleichtern, Autos, Telefon, Traktor, Häckselmaschine, Dreschmaschine,
     Kreissäge, hatten sie uns ja leichter gemacht, das ist wahr. Sie hatten aber auch die Wirkung, die Zeit zu beschleunigen.
     Man wollte zu vieles zu rasch erledigen. Immer waren die Maschinen da, blieben einem auf den Fersen, trieben uns zur Eile
     an.
    Zum Beispiel hätte ich vorher, um nach La Roque zu gelangen und Fulbert die Eheschließung von Catie und Thomas anzuzeigen
     – unter der Voraussetzung, daß es nicht telefonisch geschehen sollte –, mit dem Auto neuneinhalb Minuten gebraucht, und das
     nur wegen der vielen Kurven. Ich bin mit Colin hingeritten, der zweifellos Wert darauf legte, mich zu begleiten, um Agnès
     wiederzusehen, und wir haben eine gute Stunde benötigt. Und dort habe ich meine Benachrichtigung Fabrelâtre übergeben, da
     Fulbert noch nicht aufgestanden war. Wir konnten nicht etwa gleich wieder aufbrechen, denn die Pferde hatten nach ihren fünfzehn
     Straßenkilometern etwas Ruhe nötig. Überdies benutzte ich, um ihnen nicht allzuviel Schotterstraße zuzumuten, für den Rückweg
     die Abkürzung |356| durch den Wald, wo uns die im Wege liegenden abgestorbenen Bäume sehr aufhielten. Kurzum, nachdem wir zeitig am Morgen aufgebrochen
     waren, sind wir zu Mittag, ermüdet, aber beide recht zufrieden, heimgekehrt. Colin, weil er mit Agnès geplaudert hatte, und
     ich, weil ich da und dort grüne Triebe sprießen sah, sogar an Bäumen, die tot schienen.
    Ich bemerke, daß auch unsere Bewegungen langsamer geworden sind. Sie haben sich unserem Lebensrhythmus angepaßt. Vom Pferd
     steigt man nicht wie aus einem Auto. Es kommt nicht mehr in Frage, die Wagentür zuzuknallen und beim Klingeln des Telefons
     die Treppenstufen hochzuflitzen und den Hörer abzunehmen. Ich steige am Eingang ab, ich führe Amarante im Schritt in

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