Malevil
auf. Ich sehe Catie am Gesicht an, daß das Schwierigste noch zu sagen bleibt. Ich entschließe mich,
ihr zu helfen.
»Und du möchtest, daß ich mich heute nacht um sie kümmere?«
»Ja«, sagt sie erleichtert. »Meine Großmutter, verstehst du, wird sich wie verrückt aufführen, umherlaufen, unaufhörlich schnattern.
Genau das Gegenteil von dem, was nötig ist.«
Eine gute Beschreibung der Falvine. Ich nicke bestätigend.
»Also darf meine Großmutter dich holen, wenn Evelyne ihren Anfall bekommt?«
Ich schüttle den Kopf.
»Sie wird nicht können. Die Tür zum Bergfried ist nachts von innen versperrt.«
»Und kann man nicht, für einen Abend …?«
»Unmöglich«, sage ich streng. »Die Sicherheitsvorschriften lassen keine Ausnahme zu.«
Schwer enttäuscht blickt sie mich an.
»Eine Lösung gibt es«, sage ich. »Wenn ich Evelyne in meinem Zimmer auf dem Sofa unterbringe, das durch Thomas frei geworden
ist.«
»Das würdest du tun?« sagt sie erfreut.
»Warum nicht?«
»Ich warne dich. Bringst du sie einmal in deinem Zimmer unter, dann ist es aus. Sie wird nie wieder weggehen wollen.«
Ich muß lächeln.
»Sei unbesorgt. Eines Tages wird sie schon ihr Lager abbrechen.«
Auch sie muß lächeln. Ich merke wohl, sie ist ungeheuer erleichtert.
|349| Evelyne hat in der Nacht nach ihrer Ankunft in Malevil im Obergeschoß des Wohnbaus bei der Falvine und Jacquet geschlafen
und ist vor Freude außer sich, als sie erfährt, daß sie in mein Zimmer ziehen soll. Doch es bleibt ihr nicht Zeit, sich auf
diese Neuigkeit einzurichten. Kaum liegt sie auf dem Sofa und kaum hat Miette, die mir geholfen hat, das Bett zu machen, das
Zimmer verlassen, beginnt der Anfall. Evelyne ringt nach Luft. Ihre Nase wird spitz, der Schweiß rinnt ihr von der Stirn.
Ich habe noch niemals einen Menschen einen Asthmaanfall erleiden sehen, und was ich sehe, ist fürchterlich: ein menschliches
Wesen, das nicht mehr zu atmen vermag. Ich benötige ein paar Sekunden, um meiner Aufregung Herr zu werden. Dies ist das Wichtigste,
was ich zu tun habe, denn Evelyne schaut mit angstvollen Augen auf mich, und um sie zu beruhigen, muß ich meine eigene Ruhe
wiedererlangen. Ich setze sie auf und lehne sie mit dem Rücken an die Kopfkissen, die aber halten nicht, weil das Sofa keine
Lehne hat. Ich nehme das Kind in die Arme und trage es auf mein Bett hinüber. Es ist ein von meinem Onkel geerbtes großes
zweischläfriges Bett mit einem gepolsterten Kopfteil, an dem ich Evelyne abstütze. Dabei vermeide ich, sie anzusehen. Wenn
sie nach Luft ringt, habe ich den Eindruck, sie ist am Ersticken. Das Öllämpchen leuchtet schwach, aber die Nacht ist hell,
und ich kann deutlich sehen, wie sich ihr Gesicht verkrampft. Ich gehe zum Fenster, mache es weit auf, hole mein letztes Fläschchen
Kölnischwasser aus dem Schrank, befeuchte einen Waschlappen und wische ihr damit die Stirn und die obere Partie der Brust
ab. Sie blickt mich nicht mehr an. Sie ist außerstande zu sprechen, hat die Augen starr geradeaus gerichtet und den Kopf nach
hinten geworfen, während sie mit schweißüberströmten Wangen hustet und keucht. Da ihr unablässig das Haar in die Stirn fällt
und sie zu stören scheint, hole ich ein Stück Bindfaden aus meiner Schreibtischlade und binde es ihr zusammen.
Das ist nun alles, was ich habe, um sie zu pflegen: ein Fläschchen Kölnischwasser und ein Stück Bindfaden. Ein medizinisches
Wörterbuch besitze ich nicht, meine Kenntnisse auf diesem Gebiet sind gleich Null, und der zehnbändige Larousse vom Onkel
wird mir keine Hilfe sein, befürchte ich. Mit großer Mühe, denn das Lämpchen gibt wenig Licht, lese ich trotzdem den Artikel
über Asthma. Ich finde darin nichts als die Namen |350| von Medikamenten, die es nicht mehr gibt: Belladonna, Atropin, Novocain; keine Hausmittel, aber gerade die würde ich brauchen.
Ich betrachte Evelyne. Unsere Ohnmacht ist mit Fingern zu greifen. Nun denke ich auch daran, was geschehen würde, wenn ich
einen neuen Anfall von Blinddarmentzündung bekäme, nachdem ich aus Nachlässigkeit versäumt habe, mich operieren zu lassen.
Ich setze mich neben Evelyne. Sie wirft mir einen so angsterfüllten Blick zu, daß es mir die Kehle zuschnürt. Ich spreche
zu ihr, ich sage ihr, daß es vorübergehen wird; und dann, sobald ihre Augen nicht mehr auf mich gerichtet sind, beobachte
ich sie. Nach einer Weile stelle ich fest, daß ihr das Ausatmen schwerer fällt als
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