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Malevil

Malevil

Titel: Malevil Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: R Merle
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ihre
     Box, ich sattle ab, ich tätschle sie, und ich warte ab, bis sie ganz trocken ist, bevor ich ihr zu trinken erlaube. Im ganzen
     eine gute halbe Stunde.
    Da die Medizin verschwunden ist, wird das Leben möglicherweise kürzer werden. Aber wenn man langsamer lebt, wenn einem die
     Tage und die Jahre nicht mehr mit erschreckender Geschwindigkeit davonlaufen, wenn man endlich Zeit hat zu leben, frage ich
     mich, was man verloren hat.
    Sogar die Beziehungen zu den Menschen sind dank dieser Langsamkeit unseres Lebens beträchtlich reicher geworden. Wenn ich
     jetzt vergleiche! Germain, meinen armen Germain, der am Tage des Ereignisses vor unseren Augen starb, habe ich, obwohl er
     jahrelang mein engster Mitarbeiter war, im Grunde nicht gekannt oder, was viel schlimmer ist, gerade genug gekannt, um ihn
     zu gebrauchen. »Gebrauchen«, ein abscheuliches Wort, wenn es sich um einen Menschen handelt. Aber ich war eben wie jedermann,
     ich war in Eile. Immer nur das Telefon, die Post, das Auto, die jährlichen Versteigerungen von Reitpferden in den großen Städten,
     die Buchführung, der Papierkram, der Steuerprüfer … Ein solches Tempo des Lebens verdrängt die menschlichen Beziehungen.
    Anfang August bekommen wir den alten Pougès zu Besuch, der aus La Roque zu seiner täglichen Spazierfahrt mit dem Rad aufgebrochen
     ist. Ich verneige mich vor der Leistung dieses Mannes von fünfundsiebzig Jahren: dreißig Kilometer auf unwegsamen Straßen,
     um zwei Glas Wein zu trinken. Meiner Ansicht nach hat er sie wohl verdient. Doch man kann nicht sagen, daß ihn die Menou mit
     offenen Armen aufnimmt … Ich |357| nehme ihr die Literflasche aus der Hand und schicke sie in den Wohnbau zurück. Was habe ich ihr getan? fragt mich der alte
     Pougès im Klageton und zieht an seinen langen Schnurrbartenden. Ach nichts, sage ich, mach dir nichts draus, Altweiberideen!
     In Wirklichkeit ist mir nicht unbekannt, was die Menou ihm vorwirft: daß er ihren verstorbenen Mann vor nunmehr siebenundvierzig
     Jahren, mit den bekannten Folgen für ihren ehelichen Frieden und für die Namen ihrer Zuchtsäue, zur Adelaide mitgeschleppt
     hat. Ein halbes Jahrhundert hat die heimliche Feindschaft der Menou nicht abgestumpft. Na hör mal, sagt sie am Abend vor dem
     Essen zu mir, du hast Mut, so was bei dir zu empfangen. Ein Faulenzer, ein Trunkenbold, ein Schürzenjäger! Laß nur, Menou,
     laß nur, der Pougès, der jagt nicht mehr viel, außer auf seinem Rad! Und nur um ein bißchen zu trinken, nicht mehr als du.
    Pougès teilt mir die Neuigkeiten aus La Roque mit. Am Sonntag hat mich Fulbert, während der Predigt in der Kapelle, der Doppelzüngigkeit
     bezichtigt. So hat er gesagt, wegen Catie. Zum Glück saß Marcel neben der Judith, mit der er sich, glaub ich, gut versteht.
     Kurzum, als sie bemerkt hat, daß er ganz rot wurde, hat sie ihm die Pranke auf den Arm gelegt, sich mitten in der Predigt
     an Fulbert gewendet und zu ihm gesagt: Herr Pfarrer, entschuldigen Sie, aber ich komme in die Kirche, um vom lieben Gott sprechen
     zu hören, nicht um mir von Ihren persönlichen Zänkereien erzählen zu lassen, die Sie mit Herrn Comte wegen eines jungen Mädchens
     haben. Und du weißt, wie sie redet: scharf und kurz angebunden. Höflich, aber mit einer Stimme wie ein Feldwebel. Zum Wohl.
    »Auf dein Wohl!«
    »Am nächsten Tag hat er ihr die Ration herabgesetzt. Daraufhin geht sie mit ihrer Ration überall im Dorf herum, um sie den
     Leuten zu zeigen, und zu Fabrelâtre sagt sie: Herr Fabrelâtre, richten Sie dem Herrn Pfarrer aus, ich danke ihm dafür, daß
     er mich fasten läßt. Aber wenn ich morgen nicht meine normale Ration habe, gehe ich nach Malevil betteln. Na, du würdest es
     nicht glauben, Emmanuel, den andern Tag hat sie bekommen wie jedermann.«
    »Was beweist, daß es sich auszahlt, Mumm in den Knochen zu haben«, sage ich und schaue ihn dabei an.
    »Ach ja! Ach ja!« sagt der alte Pougès ausweichend, zieht |358| seine Rotzfahne aus der Tasche und wischt sich auf beiden Seiten sorgfältig seinen langen gelblichweißen Schnauzbart ab.
    Damit will er mir zu verstehen geben, daß sein Glas leer ist. Ich fülle es ihm ein zweites Mal bis zum Rand. Dann drücke ich
     den Stöpsel mit hartem Schlag tief in den Flaschenhals. Damit er nicht glaubt, es geht so weiter.
    Solange er an dem ersten Glas schlürft, treibt Pougès Konversation mit mir. Doch beim zweiten meint er wohl, schon genug bezahlt
     zu haben. Er schweigt. Das zweite

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