Malevil
Brotbissen und Milchtrinken hat ihr nun schon zwei Monate Aufenthalt
in meinem Zimmer eingebracht, in das sie ursprünglich nur für eine Nacht Zutritt haben sollte. Doch ich wage nicht, unserem
Übereinkommen ein Ende zu setzen, denn es ist ihr sehr zugute gekommen. Sie hat Farbe, runde Wangen und Muskeln bekommen.
Und wenn auch, trotz meiner Voraussagen, ihre Brust flach geblieben ist, so ist sie jetzt doch gut durchtrainiert. Evelyne
hat rascher als irgendein anderer reiten gelernt, denn sie steigt ohne jedes Zagen aufs Pferd, ihre kleinen Füße streichen
forsch über die Flanken des Reittiers, um es in Galopp zu setzen, und ihre blonden Zöpfe fliegen hinter ihr her. Für das Reiten
verlange ich Zöpfe von ihr, seit sie einmal die rechte Hand erhoben hat, um ihre langen Haare zurückzustreichen, und damit
bei Morgane eine Reihe von Kapriolen auslöste, die sie, glücklicherweise ohne Verletzung, auf einem kleinen Strauch landen
ließen.
Gerade in dem Moment, als Evelyne meinen Blick spürt und die Augen öffnet, fällt ein Schuß. Dann ein zweiter und dann, eine
Viertelsekunde später, ein dritter. Im Nu geht meine Überraschung in Besorgnis über. Peyssou und Colin haben die Nacht auf
dem Anstand in den Rhunes zugebracht, um diese Stunde aber wollten sie wieder heraufkommen. Da schon Tag ist, wird sich der
Dachs nicht auf das Kornfeld wagen. Und wenn, hätten Colin und Peyssou nicht drei Patronen gebraucht, um ihn zu erwischen.
Ich stehe auf und ziehe rasch meine Hose an.
»Evelyne, lauf in den Torbau und sag Meyssonnier, er soll seine Flinte nehmen, öffnen und auf mich warten.«
Vor einem Monat hatte ich nämlich entschieden, daß jeder persönlich über eine Waffe verfügen und sie in seinem Zimmer behalten
soll. Im Falle eines nächtlichen Überfalls würde es also drei Flinten im Torbau, drei im Bergfried und eine, die von Jacquet,
im Wohnbau geben.
Evelyne flitzt barfuß und im Hemd davon, und als ich aus meinem Zimmer trete, taucht Thomas im Schlafanzug auf, mit nacktem
Oberkörper.
|361| »Was ist los?«
»Nehmt beide eure Flinten und postiert euch im Torbau. Rührt euch von dort nicht weg. Ihr bleibt da, um Malevil zu bewachen.
Schnell, schnell! Ihr braucht euch nicht erst anzuziehen!«
Ich stürme die Wendeltreppe hinunter, da kommt Jacquet aus Miettes Zimmer. Er hatte schneller reagiert als Thomas: Er hat
eine Hose an und sein Gewehr bei sich. Wir wechseln kein Wort miteinander. Wir rennen Seite an Seite.
Als wir in der Mitte des äußeren Hofes sind, knallt in den Rhunes ein vierter Schuß. Ich bleibe stehen, lade meine Flinte
durch und schieße in die Luft. Das bedeutet, wir kommen, und ich hoffe, sie werden es verstehen. Ich laufe weiter. Vor mir
sehe ich Meyssonnier; mit seinem Gewehr in der Hand ist er eben dabei, das Tor zu öffnen. Ich rufe ihn von weitem an.
»Lauf! Lauf! Ich komme dir nach!«
Jacquet, der weitergerannt ist, während ich stehenblieb, um meine Flinte abzufeuern, ist mir jetzt voraus. Ich laufe hinter
ihm her, durch das Tor hinaus und den Abhang hinunter, da höre ich hinter mir das Geräusch eines Atems. Ich drehe mich um
und sehe Evelyne, barfuß und im Hemd.
Wahnsinniger Zorn erfaßt mich, ich bleibe stehen, packe sie am Arm, rüttle sie und schreie sie an.
»Zum Teufel! Was hast du hier zu suchen! Ab! Hinein!«
»Nein! Nein! Ich will dich nicht allein lassen« schreit sie.
»Hinein!« brülle ich und gebe ihr mit aller Macht zwei Ohrfeigen. Sie gehorcht wie ein geschlagenes Tier und geht rückwärts
ganz langsam auf das Tor zu, wobei sie mich aus verschreckten Augen ansieht.
»Hinein!« brülle ich.
Ich verliere wertvolle Sekunden! Und Catie und Thomas sind noch nicht da! Keiner, dem ich sie anvertrauen kann. Auch nicht
die Menou, die unter dem weit offenen Tor mit Momo ringt, den sie mit beiden Händen an seinem Hemd zurückhält.
Ich fasse Evelyne um den Leib und werfe sie mir über die Schulter, renne zum Tor zurück und lege sie, wie ein Gepäckstück,
im Innern ab.
Im gleichen Moment sehe ich, daß Momo sich losgerissen hat und zu den Rhunes hinunterrennt.
»Momo! Momo!« schreit die Menou verzweifelt und beginnt nun ihrerseits zu laufen.
|362| Und die beiden sind noch immer nicht da! Nicht möglich, sie malt sich wohl noch an! Und er wartet auf sie!
Ich lasse Evelyne stehen, laufe den Weg hinunter, überhole die auf ihren mageren Beinchen trippelnde Menou und rufe: Momo!
Momo! Aber ich weiß
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