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Malevil

Malevil

Titel: Malevil Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: R Merle
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bereits, daß ich ihn nicht einholen werde. Er rennt wie ein kleines Kind, das seine Füße über den Boden
     schleift, doch er kommt sehr schnell vorwärts, und sein Atem ist unerschöpflich.
    An der Haarnadelkurve kann ich, ohne mich umzudrehen, die Menou aus Leibeskräften laufen sehen, und hinter ihr Evelyne. Diese
     fortgesetzten Disziplinverstöße entmutigen mich aufs äußerste. Jetzt bin ich überzeugt, daß auch Catie und Thomas ihren Posten
     verlassen und uns folgen werden: Malevil wird ohne Verteidiger bleiben. Unsere ganze Habe, alle unsere Vorräte, alle unsere
     Tiere jedem preisgegeben, der hinein möchte! Ich bin verzweifelt, das Herz schlägt mir gegen die Rippen, ich laufe mit zusammengebissenen
     Zähnen, meine Kehle schnürt sich zusammen, daß es mich schmerzt. Ich bin vor Wut und Besorgnis außer mir.
    Von ferne sehe ich, wie Peyssou, Colin, Meyssonnier und Jacquet, mit dem Rücken zu mir, die Waffe in der Hand, in einer Linie
     stehen. Sie sind völlig regungslos. Sie sagen nichts. Sehen versteinert aus. Was sie versteinert, weiß ich nicht, doch ihre
     Haltung ist nicht die von Menschen, die bedroht sind, die sich verteidigen müssen oder Angst haben. Sie sind einfach stumm,
     in Statuen verwandelt, schauen sich auch nicht um, als sie meine Schritte hören.
    Bei ihnen angelangt, sehe ich nun selbst. Etwa zehn Meter vor uns hocken oder liegen an die zwanzig auf die letzte Stufe körperlichen
     Verfalls heruntergekommene, zerlumpte Gestalten in unserem Korn. Die Haut ihrer Gesichter, die nicht bleich, sondern richtig
     vergilbt ist, hängt von den Knochen. Einige sind derart entkräftet, daß sie ihre Blicke nicht mehr einzustellen vermögen und
     grauenhaft schielen. Unter leisem, furchtsamem Gebelfer fressen sie die halbreifen Ähren ab. Sie nehmen sich nicht einmal
     Zeit, das Korn aus der Hülse zu lösen, sie fressen alles. Ich bemerke, daß sie grün um den Mund sind, was beweist, daß sie
     auch versucht haben, Gras abzuweiden. Wie eine zum Skelett abgemagerte Herde Vieh. Ihre Schielaugen flackern vor Angst und
     Gier. Und sie werfen scheue Blicke |363| auf uns, während sie sich die Mäuler eiligst mit Ähren vollstopfen. Wenn sie daran zu ersticken drohen, speien sie ihre Nahrung
     in die hohle Hand zurück, um sie dann gleich wieder zu verschlingen. Auch Frauen sind unter ihnen, man erkennt sie nur an
     der Länge ihrer Haare, denn ihre entsetzliche Magerkeit hat sie um jedes sichtbare Geschlechtsmerkmal gebracht. Kein einziger
     hat eine Flinte. Aber Forken und Knüttel kann ich auf den Getreidehalmen liegen sehen.
    Der Anblick ist so jammervoll, daß ich eine Weile brauche, um mir klarzumachen, daß sie unsere Ernte bereits zu einem Viertel
     verwüstet haben und sie gänzlich verderben werden, wenn wir nicht einschreiten. Aber dieses Getreide, das sie verheeren oder
     verschlingen, ist unser Leben. Wenn wir sie gewähren lassen, das Korn von Malevil ungestraft zu vernichten, dann wird auch
     Malevil auf den Stand einer umherziehenden, verhungerten Horde herabsinken wie so viele andere. Denn ich bin sicher, diese
     ist nur die erste, die wir zu Gesicht bekommen.
    Peyssou steht neben mir. Er scheint sich meiner Anwesenheit nicht bewußt zu sein. Aber der Schweiß läuft ihm über das Gesicht.
    »Wir haben alles versucht«, sagt Colin mit einer von Schmerz und Zorn erstickten Stimme. »Wir haben mit ihnen gesprochen,
     wir haben sie angeschrien. Wir haben in die Luft geschossen. Wir haben mit Steinen auf sie geworfen. Die Steine machen ihnen
     nichts aus, sie schützen den Kopf mit einem Arm und fressen weiter!«
    »Aber was sind das nur für Menschen?« fragt Meyssonnier mit einem Ausdruck von Verblüffung, den ich zu anderer Zeit komisch
     gefunden hätte. »Und woher kommen sie?«
    In ohnmächtiger Wut ruft er ihnen auf patois zu: »Haut doch ab, zum Teufel! Ihr seht doch, daß ihr unser Korn verwüstet! Und
     was sollen wir dann essen?«
    »Ach was«, sagt Colin, »Patois oder Französisch, sie antworten nicht mal! Sie fressen. Und da haben wir uns über einen Dachs
     geärgert!«
    »Und wenn wir mit dem Gewehrkolben dazwischenschlagen?« sagt Peyssou endlich mit erstickter Stimme.
    Ich schüttle den Kopf. Auf ihre Schwäche dürfen wir uns nicht verlassen. Von einem Wesen, das nicht mehr aus und ein |364| weiß, ist alles zu erwarten. Und Gewehrkolben gegen Heugabeln ergäbe ein ungleiches Gefecht. Nein. Ich weiß, welchen einzig
     logischen Entschluß ich fassen müßte. Auch

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