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Malevil

Malevil

Titel: Malevil Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: R Merle
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meine Gefährten wissen es. Aber ich bin nicht imstande dazu. Das entsicherte Gewehr
     in der Hand und den Finger am Abzug, stehe ich am Rande dieses Getreidefeldes und zaudere. Mich hat eine totale Hemmung befallen,
     die mich entgegen meinem klaren Urteil lähmt. Auch ich bin versteinert.
    Der einzige, der sich rührt, ist Momo. Ich weiß, daß er sehr erregbar ist, doch in solcher Raserei habe ich ihn noch nie gesehen.
     Er trampelt mit den Füßen, reckt die Arme zum Himmel, schüttelt die Fäuste und brüllt. Von wahnsinnigem Zorn gepackt, wendet
     er mir seine flackernden Augen und den struppigen Kopf zu und beschwört mich mit Stimme und Gebärde, der Plünderung ein Ende
     zu bereiten.
    »Da Koon! Da Koon!« ruft er mit schriller Stimme.
    Die Plünderer müssen sich schon untereinander oder mit einer anderen Bande geprügelt haben, denn ihre Kleider sind zerfetzt,
     und diese schmutzigen, verschmierten, erdfarbenen Fetzen entblößen Schenkel, Oberkörper und Rücken. Eine Frau, der die Brüste
     schlaff auf den Boden hängen, während sie sich auf allen vieren von Ähre zu Ähre schleppt, trägt Schuhe, doch die meisten
     haben die Füße mit Lumpen umwickelt. Es sind weder Kinder noch Greise unter ihnen: Die weniger Widerstandsfähigen sind bereits
     gestorben. Die ich sehe, stehen in der »Blüte des Lebens«. Ein Ausdruck, der grausam erscheint, wenn man ihn auf diese Gerippe
     anwendet. Betroffen sehe ich die vorspringenden Beckenknochen, die ungeheuerlich erscheinenden Knie, die Schulterblätter,
     die Schlüsselbeine. Wenn sie kauen, sind die Muskeln ihrer Kiefer zu sehen. Ihre Haut ist ein faltiger Sack, der die Knochen
     umhüllt, und von der ganzen Gruppe geht ein ranziger Geruch aus, der einem Würgen und Übelkeit verursacht.
    »Da Koon! Da Koon!« ruft Momo und faßt sich mit beiden Händen in die Haare, als wollte er sie ausreißen.
    Ich halte mit der rechten Hand mein Gewehr umklammert, aber immer noch liegt es, mit der Mündung zur Erde, an meiner Hüfte.
     Ich vermag nicht anzulegen. Ich empfinde unbändigen Haß auf diese Fremden, auf diese Plünderer, weil sie unser Leben auffressen.
     Zugleich aber empfinde ich ein erbärmliches |365| Mitleid, das meinem Haß die Waage hält und mich unfähig macht zu handeln.
    »Da Koon! Da Koon!« brüllt Momo auf dem Höhepunkt der Erregung.
    Und plötzlich hat er im Laufschritt die zehn Meter, die uns von der Bande trennen, überwunden, fällt brüllend über den Plünderer
     her, der ihm am nächsten ist, und hämmert mit Fäusten und Stiefeln auf ihn ein.
    »Momo! Momo!« schreit die Menou.
    Irgend jemand hat gelacht, vielleicht Peyssou. Auch ich habe Verlangen zu lachen. Aus Zuneigung für Momo, weil es ihm ähnlich
     sieht, etwas so Kindisches und Lächerliches zu tun. Und auch, weil nichts von dem, was Momo tut, Konsequenzen nach sich zieht,
     weil Momo ein Einschiebsel im Ernst des Lebens ist, »die Butter aufs Brot«. Weil ich mir nicht vorstelle, daß Momo je etwas
     zustoßen könnte. Er ist immer so behütet gewesen – von der Menou, vom Onkel, von mir, von den Gefährten. Eine halbe Sekunde
     zu spät habe ich den wilden Blick des Mannes gesehen, eine Viertelsekunde zu spät den Hieb mit der Forke. Ich glaubte, ihm
     mit dem Schuß zuvorzukommen. Doch es war schon geschehen. Die drei Zinken der Forke drangen in Momos Herz, als meine Kugel
     seinen Gegner traf und ihm die Kehle zerfetzte.
    Sie fallen gleichzeitig. Ich höre ein unmenschliches Gebrüll und sehe die Menou nach vorn stürzen und sich über den Leichnam
     ihres Sohnes werfen. Jetzt rücke ich vor wie ein Automat, im Vorrücken schieße ich. Zu meiner Rechten und zu meiner Linken,
     in einer Linie vorrückend, schießen auch meine Gefährten. Wir schießen, ohne zu zielen, in die Menge. In meinem Kopf ist völlige
     Leere. Ich denke nur: Momo ist tot. Ich empfinde nichts. Ich rücke vor und schieße. Wir brauchen gar nicht vorzurücken, wir
     sind bereits so nahe. Und trotzdem rücken wir vor, mechanisch, methodisch, wie wenn wir ein Feld abmähten.
    Nichts rührt sich mehr, und dennoch schießen wir weiter. Bis die letzte Patrone verbraucht ist.

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    Keinem von uns, außer der Menou, wurde der Verlust Momos auf der Stelle bewußt, denn zunächst konnten wir irgendwie nicht
     daran glauben; vor allem aber fanden wir uns nach dem Einfall der Bande und ihrer Vernichtung vierzehn Tage lang vom Morgen
     bis zum Abend mit zermürbenden Verrichtungen

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