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Malevil

Malevil

Titel: Malevil Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: R Merle
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Fernglas zurückgab.
    Seine Bemerkung berührte mich für den Augenblick nicht. Sie kam mir erst einen Moment später wieder in den Sinn. Das Halbdunkel
     hatte sich aufgehellt, und ich konnte die rosa Gesichter der Strolche jetzt in deutlichen Umrissen erkennen. Sie hatten nichts
     Abgezehrtes an sich, nichts mit den Plünderern der Rhunes gemein. Diese zwei Männer waren jung, kräftig und gut genährt. Ich
     sah den größeren auf die Palisade zugehen, und ich erkannte an seiner Haltung, was er gerade tat. Er las die Tafel, die wir
     dort für die Besucher angenagelt hatten. Eine große weißgestrichene Sperrholzplatte, auf die Colin mit schwarzer Farbe den
     folgenden Text geschrieben hatte:
     
    |405| WENN SIE FREUNDLICHE ABSICHTEN HABEN, LÄUTEN SIE DIE GLOCKE WIR SCHIESSEN AUF JEDEN, DER BEIM ERKLETTERN DER PALISADE BETROFFEN
     WIRD
    MALEVIL
     
    Es war ein Werkstück von sorgfältigster Ausführung. Colin hatte alle Buchstaben erst mit Bleistift vorgezeichnet. Er hätte
     über MALEVIL gern noch einen Totenkopf mit Schienbeinknochen gezeichnet, aber ich war dagegen. Ich fand, daß der Text in seiner
     Nüchternheit hinreichte.
    Die zwei Männer suchten, jeder für sich und mehrmals vergeblich, eine Ritze, die ihnen ermöglicht hätte, auf die andere Seite
     der Palisade zu schauen. Der eine zog sogar sein Messer aus der Tasche und versuchte, dem harten alten Eichenholz zu Leibe
     zu gehen. In diesem Moment hatte gerade Meyssonnier den Feldstecher und reichte ihn mir.
    »Schau dir doch dieses arme Schwein an«, flüsterte er mitleidig.
    Ich sah durch das Glas, aber als ich es eingestellt hatte, gab der Mann seinen Versuch bereits auf. Er schloß sich wieder
     seinem Gefährten an. Kopf an Kopf stehend, schienen sie sich zu beraten. Ich hatte den Eindruck, daß sie uneins waren, und
     aus mehreren Gebärden in Richtung auf den Weg meinte ich zu entnehmen, daß der Große sich zurückziehen wollte, der Kleine
     hingegen darauf bestand weiterzumachen. Aber was weiterzumachen? Das gerade war nicht klar. Sie konnten doch wohl nicht die
     Vermessenheit besitzen, zu zweit Malevil angreifen zu wollen.
    Eine Entscheidung schien jedenfalls getroffen zu sein, denn ich sah sie ihr Gewehr umhängen. (Wieder beunruhigte mich die
     Form ihrer Waffe.) Dann lehnte sich der Große mit dem Rücken an die Palisade und schloß in Höhe seines Unterleibs die Hände
     zusammen, um dem Kleinen beim Klettern behilflich zu sein. In diesem Moment fiel mir plötzlich Meyssonniers Bemerkung ein,
     daß keiner von ihnen ein Gepäckstück bei sich trage. Die Eindeutigkeit der Situation hatte mich blind gemacht. Diese Männer
     waren keine Einzelgänger. Sie hatten nicht die Absicht, Malevil anzugreifen oder auch nur einzudringen. Sie gehörten zu einer
     Bande und waren gekommen, um vor dem Angriff das Gelände zu erkunden.
    Ich legte meinen Feldstecher weg.
    |406| »Ich knalle den Kleinen ab und will versuchen, den Großen gefangenzunehmen«, flüsterte ich Meyssonnier rasch zu.
    »Das ist nicht nach der Vorschrift«, sagte Meyssonnier.
    »Die Vorschrift ändere ich ab«, sagte ich sogleich in schneidendem Ton.
    Ich schaute ihn an. In Meyssonniers ehrlichem Gesicht zeichnete sich ein schmerzlicher Widerstreit ab zwischen der Achtung
     vor der Vorschrift und dem gebührenden Gehorsam gegenüber dem Anführer.
    »Du darfst nicht schießen«, fuhr ich in gleichem Ton fort. »Das ist ein Befehl.«
    Ich legte an. Durch das Zielfernrohr der Springfield konnte ich deutlich das rosige Gesicht des Kleinen im Profil sehen, während
     er, mit den Füßen auf den Schultern seines Begleiters und mit beiden Händen oben an die Palisade geklammert, sein Gesicht
     Zentimeter um Zentimeter höher schob, um seine Augen in gleiche Höhe mit dem Schlußbalken zu bringen. Mit einem Zielfernrohr
     war es auf diesen Abstand ein Kinderspiel. Es kam mir in den Sinn, daß dieser kleine Bursche, jung und bei bester Gesundheit,
     nur noch ein oder zwei Sekunden Leben vor sich hatte. Nicht, weil er die Palisade zu überklettern versuchte, dieses Bestreben
     hatte er nicht, sondern weil er jetzt Nachrichtenmaterial in seinem Kopf trug, das einem Angreifer von Nutzen wäre. In diesem
     Kopf, den die Kugel aus der Springfield jetzt gleich zum Bersten bringen würde wie eine Haselnuß.
    Während der kleine Bursche ausführlich und sorgfältig die örtlichen Verhältnisse erkundete und nicht wußte, in welchem Maße
     die Informationen, die er sammelte, bereits unnütz

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