Malevil
verlassen würden.
Als wir den kleinen Hof erreichten, der vom Bergfried, von der Zugbrücke und dem Renaissancebau begrenzt wird, machte mir
Thomas ein Zeichen; ich sollte stehenbleiben, und er fing wieder damit an, seinen Zähler methodisch am Boden entlangzuführen.
Mit trockener Kehle stand ich vor dem Kellereingang und sah ihm zu. Die Hitze, die in der Tat viel größer als im Keller war,
hüllte mich sogleich ein. Trotzdem kam ich seltsamerweise nicht auf den Gedanken, einen Blick auf das Thermometer zu werfen,
das ich mitgenommen hatte.
Der Himmel war grau und bleiern, die Helligkeit recht gering. Ich sah auf meine Uhr: 9 Uhr 10. Ganz benommen im Kopf, stellte
ich mir unklar die Frage, ob das die Abenddämmerung des Tages X oder schon der nächste Morgen war. Eine absurde Frage, wie
ich nach angestrengter Überlegung, die mir höchst schmerzvoll erschien, merkte. Zu Ostern war es um neun Uhr abends bereits
dunkel. Es handelte sich also doch wohl um den Morgen des Tages X 2: Wir hatten einen Tag und eine Nacht in diesem Weinkeller
zugebracht.
Über uns konnte ich weder blauen Himmel noch Wolken sehen, sondern nur einen gleichmäßig dunkelgrauen Schleier; wir schienen
eingeschlossen wie unter einem Deckel. Das Wort »Deckel« gibt ganz richtig den Eindruck von Halbdunkel und erstickender Schwere
wieder, den mir der Himmel bot. Ich hob den Blick. Die Burg selbst schien nicht gelitten zu haben, außer daß an dem Teil des
Bergfrieds, der ein wenig über den Gipfel der Felswand hinausragte, die Steine braun angelaufen waren.
Der Schweiß begann mir wieder über das Gesicht zu rinnen, und ich schaute jetzt endlich auf das Thermometer. Es zeigte fünfzig
Grad. Auf den jahrhundertealten Pflastersteinen, über die Thomas seinen Zähler führte, lagen halbverkohlte Vogelleichen, Elstern
und Tauben. Sie waren im Bergfried ständige |94| Gäste gewesen, über das Taubengegurre und Elsterngeschrei hatte ich mich häufig beklagt. Nun würde ich keine Ursache zur Klage
mehr haben. Alles war still; nur wenn ich lauschte, war weit in der Ferne ein unablässiges Knattern und Pfeifen zu vernehmen.
»Negativ«, sagte Thomas, als er mit schweißbedecktem Gesicht zu mir zurückkam.
Ich verstand ihn, aber aus irgendeinem Grunde machte mich sein kurz angebundenes Reden gereizt. Es trat Schweigen ein, und
da er sich nicht rührte und mit aufmerksamer Miene zu horchen schien, versetzte ich ungeduldig: »Machen wir weiter?«
Thomas betrachtete den Himmel, ohne mir zu antworten.
»Na dann los«, sagte ich mit einer Gereiztheit, die ich nur mit Mühe im Zaum hielt. Diese Gereiztheit, glaube ich, war auf
die außerordentliche Erschöpfung, die Angst und die Hitze zurückzuführen. Jemandem zuhören, mit ihm sprechen oder ihn auch
nur ansehen, alles fiel einem schwer.
»Ich hole noch meinen Feldstecher«, fügte ich hinzu.
In meinem Zimmer im zweiten Stockwerk des Bergfrieds herrschte entsetzliche Hitze, doch wie mir schien, war alles intakt geblieben
bis auf das Blei, mit dem die kleinen Fensterscheiben eingefaßt waren und das außen stellenweise über das Glas geflossen war.
Während ich in allen Fächern der Kommode nach meinem Feldstecher suchte, nahm Thomas den Telefonhörer ab, hielt ihn ans Ohr
und drückte wiederholt auf die Gabel. Mir lief der Schweiß über die Wangen, und ich warf Thomas einen bösen Blick zu, als
machte ich es ihm zum Vorwurf, daß er mit seinem Versuch einen kurzen Hoffnungsschimmer in mir geweckt hatte.
»Tot«, sagte er.
Ich zuckte wütend die Achseln.
»Ich mußte es ja wohl mal kontrollieren«, sagte Thomas beinahe mißmutig.
»Da ist er«, sagte ich etwas beschämt.
Und dennoch, ich fühlte mich außerstande, der zänkischen und ohnmächtigen Feindseligkeit Herr zu werden, die ich gegen meine
Mitmenschen empfand. Ich hängte mir den Feldstecher um den Hals und stieg, von Thomas gefolgt, die Wendeltreppe zum obersten
Stockwerk hinauf. Die Temperatur war |95| zum Ersticken. Mehrmals auf den ausgetretenen Stufen stolpernd, fing ich mich mit der Rechten am Geländer auf, und der Handteller
begann wieder zu brennen. Das Fernglas baumelte mir vor der Brust. Der Druck des Riemens in meinem Nacken erschien mir unerträglich.
Als wir auf dem Bergfried von der Wendeltreppe ins Freie hinaustraten, konnten wir nichts sehen, denn die Terrasse war ringsum
von einer etwa zwei Meter fünfzig hohen Mauer eingefaßt. Die steinernen Stufen ohne Gegentritt,
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