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Malevil

Malevil

Titel: Malevil Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: R Merle
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quarren auf und begann an seinem Daumen zu lutschen,
     als wäre er plötzlich ins infantile Stadium zurückgefallen.
    Ich betrachtete die Menou, während sie, den Messergriff fest in der mageren Hand, mit viel Mühe kleine, ziemlich dicke Scheiben
     von dem Schinken abschnitt. Genauer gesagt, ich betrachtete ihren Körper. Wie ich geahnt hatte, trug sie keinen Büstenhalter;
     anstelle des Busens hatte sie zwei schlaffe, faltige kleine Säckchen. Ich sah die vorspringenden Beckenknochen unterhalb ihres
     unfruchtbaren Bauches, ihre Schulterblätter traten heraus, und ihre Hinterbacken, magerer als die einer Meerkatze, waren von
     der Größe einer Faust. Wenn ich »die Menou« sagte, drückten sich in diesem Namen für gewöhnlich Zuneigung, Wertschätzung und
     Neckerei aus, die in unseren Beziehungen ihre Rolle spielten. Aber heute, da ich sie zum erstenmal nackt sah, wurde ich gewahr,
     daß »die Menou« auch ein Körper war, der Körper der einzigen Frau vielleicht, die überlebt hatte; und daß er vergreist war,
     machte mich grenzenlos traurig.
    Die Menou nahm die Schinkenscheiben wie Spielkarten in ihre rechte Hand und ging an die Verteilung, indem sie bei mir anfing
     und bei Momo aufhörte. Dieser fiel mit einem kurzen wilden Aufschrei über seinen Anteil her und stopfte ihn mit allen Fingern
     zur Gänze in den Mund. Auf der Stelle wurde er scharlachrot im Gesicht und wäre vermutlich erstickt, hätte ihm seine Mutter,
     um ihm Luft zu verschaffen, nicht mit Gewalt die Kiefer aufgerissen und ihre winzige Hand tief in den Schlund geschoben. Dann
     schnitt sie die speichelnasse Scheibe mit Thomas’ Messer in kleine Stücke und steckte sie Momo einzeln in den Mund; dabei
     schalt sie ihn und ohrfeigte ihn jedesmal, wenn er sie in die Finger biß.
    Diese Szene beobachtete ich wie geistesabwesend, ohne zu lächeln und auch ohne Ekel zu empfinden. Denn seit ich den Schinken
     in der Hand hatte, floß mir der Speichel im Mund zusammen. Ich hielt die Scheibe mit beiden Händen fest, und mit kaum minderer
     Freßgier als Momo begann ich sie mit den Zähnen zu zerreißen. Sie war sehr salzig, und das viele Salz zugleich mit dem Schweinefleisch,
     in das es eingedrungen war, |90| zu verzehren bereitete mir ein unglaubliches Wohlbefinden. Ich bemerkte, daß meine Gefährten, Peyssou eingeschlossen, ebenso
     gierig aßen, wobei sie ein wenig voneinander abrückten und wie in Furcht, man könnte ihnen ihr Teil wegnehmen, nahezu feindselige
     Blicke um sich warfen.
    Ich war lange vor den anderen fertig, suchte mit dem Blick den Tragekorb mit den gefüllten Flaschen und stellte fest, daß
     er leer war. Ich war also nicht der einzige, der seinen Durst gelöscht hatte, und darüber war ich froh, denn ich fing an,
     Gewissensbisse zu empfinden, weil ich den Bottich so lange mit Beschlag belegt hatte. Ich nahm zwei leere Flaschen, ging sie
     füllen, verteilte wiederum die Gläser – diesmal ohne darauf zu achten, welches von Momo befingert war – und schenkte in der
     Runde Wein ein. Während sie wortlos tranken, wie sie gegessen hatten, hingen meine Gefährten mit ihren hohlen, blinzelnden
     Augen an dem Schinken, der noch auf dem Faß lag, wo die Menou ihn angeschnitten hatte. Diese verstand die Blicke, ließ sich
     aber nicht rühren. Sobald sie ihren Wein getrunken hatte, wickelte sie den Schinken unbarmherzig wieder ein und brachte ihn
     außer Reichweite an seinen Platz über unseren Köpfen. Mit Ausnahme von Peyssou waren wir noch nackt, und wie wir, halb krumm
     vor Erschöpfung, schweigend dastanden und die Augen gierig auf das in der dunklen Wölbung hängende Fleisch richteten, unterschieden
     wir uns nicht sehr von jenen Hominiden, die in den Zeiten, da der Mensch noch kaum über den Primaten stand, nicht weit von
     Malevil in der Mammutgrotte der Rhunes gelebt hatten.
    Knie und Handflächen schmerzten mich noch, aber Kraft und Bewußtsein kehrten gemeinsam in meinen Körper zurück, und ich merkte,
     wie auffallend wenig wir redeten und mit welcher Sorgfalt wir vermieden, etwas zu dem Ereignis zu sagen. Zur gleichen Zeit
     fühlte ich mich zum erstenmal ein wenig geniert, daß ich nackt war. Die Menou mußte wohl die gleiche Empfindung haben, denn
     sie sagte halblaut und mit mißbilligendem Ausdruck: »Wie stehe ich denn bloß herum!«
    Sie hatte französisch gesprochen, in der Sprache der offiziellen, höflichen Empfindungen. Wie alle anderen auch begann sie
     sogleich, sich anzukleiden, und fuhr auf

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