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Malevil

Malevil

Titel: Malevil Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: R Merle
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packte mich an den Ärmeln meines Pullovers
     und schrie laut: »Das ist nicht wahr!«
    Ich hatte nicht den Mut zu einer Entgegnung. Doch ich griff nach den Händen, die Peyssou in meinen Pullover verkrampft hatte,
     und suchte sie zu lösen. Dabei fielen die Pulloverärmel auseinander und legten den Feldstecher bloß, den ich um den Hals trug.
     Peyssou sah ihn, erkannte ihn, und sein Blick blieb mit Entsetzen daran hängen. Ich bin sicher, in dieser Sekunde fiel ihm
     jener Nachmittag wieder ein, den wir einst auf der Brüstung des Bergfrieds verbracht hatten, um die entlegenen Höfe auszumachen.
     Ein Ausdruck von Verzweiflung verheerte seine Züge, seine Hände ließen los, er lehnte den Kopf an meine Schulter und fing
     mit schwerem Schluchzen wie ein Kind zu weinen an.
    Nun entstand in diesem Weinkeller plötzlich eine Bewegung, die jeden erfaßte, ohne daß wir uns verständigt hätten, und die
     mich so tief erschütterte, daß sie, wie ich glaube, entscheidend dafür war, daß ich wieder Mut zu leben bekam. Ich schob meine
     Arme um den großen Peyssou (er war fast einen halben Kopf größer als ich), und sogleich waren auch Colin und Meyssonnier bei
     ihm, legten ihm die Hand auf die Schulter und suchten ihn auf ihre einfache, männliche Art zu beruhigen. Höchst überrascht
     konnte ich erleben, wie reichlich sie, die selber alles verloren hatten, ihre Tröstungen unserem Kameraden zukommen ließen.
     Gleichzeitig mußte ich irgendwie daran denken, daß Colin und ich zwölf Jahre alt gewesen waren, als wir zum letzten Mal Peyssou
     so eng umschlungen hielten, damit ihm Meyssonnier »das Maul stopfen« konnte. Diese Erinnerung aber, weit davon entfernt, meine
     Rührung zu verringern, vermehrte sie noch. Da standen wir nun alle drei um diesen dicken, ungeschlachten Bären und redeten
     ihm zu, tätschelten ihn, klopften ihm auf die Schulter und schimpften leise auf ihn ein. Laß gut sein, alter Junge, hör auf.
     Worauf er unter Tränen dankbar antwortete: Schert euch doch zum Teufel, ich brauche euch nicht!
    Allmählich ließ das Schluchzen nach.
    »Man müßte vielleicht mal hingehen und nachsehen«, sagte Meyssonnier, bleich und hohläugig.
    |102| »Ja«, sagte Colin mit ungeheurer Anstrengung. »Man müßte mal hingehen.«
    Doch keiner von beiden rührte sich.
    »Ich weiß nicht, ob ihr durchkommt«, sagte Thomas. »Die Wälder brennen noch. Und bis Malejac ist auf beiden Seiten nur Wald.
     Dazu die Radioaktivität. Der Burghof liegt immerhin sehr geschützt. Das Risiko ist groß.«
    »Das Risiko?« fragte Peyssou und nahm die Hände vom Gesicht. »Warum soll ich denn noch leben?«
    Es trat Schweigen ein.
    »Und wir?« fragte ich und sah ihn an.
    Peyssou zuckte die Achseln, wollte sprechen, überlegte es sich aber anders und schwieg. Seine Achseln meinten nicht dasselbe
     wie sein Schweigen. Sie wollten sagen: Das kann man doch nicht vergleichen! Aber er schwieg, weil er wohl wußte, daß auch
     wir zählten.
    Jetzt nahm die Menou das Wort. Nicht so, wie es ihre Gewohnheit war: kein halblaut geleiertes Selbstgespräch, das nur in zweiter
     Linie für andere bestimmt ist, und auch keine jener kurzen Bemerkungen, die sie sonst auf patois rasch mal ins Gespräch wirft.
     Für ihre Begriffe war es vielmehr eine ganze Rede, und zwar hielt sie die auf französisch, was bewies, welche Bedeutung sie
     ihr beimaß, auch wenn sie weiter ihre Flaschen verkorkte.
    »Mein Junge«, sagte sie und sah dabei Peyssou an, »wir haben nicht zu bestimmen, ob wir leben oder sterben werden. Wenn man
     am Leben ist, dann heißt es weitermachen. Das Leben ist wie die Arbeit. Besser, man führt es zu Ende, anstatt es fallenzulassen,
     sobald es schwierig wird.«
    Sie drückte auf den Hebel an ihrem Apparat; und der Korken senkte sich geräuschlos in den Flaschenhals. Peyssou sah sie an,
     machte den Mund auf, besann sich aber und blieb still.
    Ich dachte, die Menou hätte ausgeredet, doch sie stellte eine zweite Flasche unter den Hebel und fuhr fort: »Du denkst dir:
     Die Menou, die hat nichts verloren, die hat ihren Momo. Und in einem Sinn ist das wahr. Trotzdem aber, auch wenn ich Momo
     verloren hätte (sie ließ den Hebel los und bekreuzigte sich), würde ich nicht so sprechen wie du. Du lebst, weil du lebst,
     mein Junge. Weiter brauchst du nicht zu sinnen. Der Tod ist schließlich nicht des Menschen Freund.«
    |103| »Du hast recht, Mutter«, sagte Colin.
    Und die Mutter hätte sie, dem Alter nach, sein können, doch bis

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