Malevil
Religion ist das immer eine etwas heikle Geschichte, aber ich hätte dir nicht recht gegeben. Obendrein
hast du sie schön gesprochen, besser als der Pfarrer, |112| bei dem keiner was verstanden hat, weil er sie immer so schnell herunterleierte, als wäre er gar nicht bei der Sache. Bei
dir, Emmanuel, war Gefühl darin.
Wir mußten uns für die Nacht einig werden. Ich bot Thomas Gastfreundschaft auf meinem Sofa, wodurch das Zimmer nebenan für
Meyssonnier frei wurde. Das im ersten Stockwerk überließ ich Colin und Peyssou.
Erschöpft und schlaflos lag ich mit weit geöffneten Augen auf meinem Bett. Nicht der kleinste Schimmer von Licht. Für gewöhnlich
ist die Nacht eine Mischung von Grautönen. Diese nun war schwarz wie Tinte. Ich konnte nichts unterscheiden, nicht die geringsten
Konturen, nicht einmal meine Hand drei Zentimeter vor meinen Augen. Neben mir, unterm Fenster, wälzte sich Thomas auf seinem
Bett. Ich hörte ihn. Ich sah ihn nicht.
Es klopfte an der Tür. Ich fuhr zusammen und rief mechanisch: »Herein!« Die Tür knarrte. Im Dunkeln sind alle Geräusche von
ungewöhnlicher Intensität.
»Ich bin’s«, sagte Meyssonnier.
Ich drehte mich in die Richtung seiner Stimme.
»Komm herein. Wir schlafen nicht.«
»Ich auch nicht«, sagte Meyssonnier überflüssigerweise.
Er blieb reglos auf der Schwelle, ohne sich zum Eintreten zu entschließen. So vermutete ich wenigstens, denn wahrnehmen konnte
ich nichts. Wären wir Schatten im Jenseits gewesen, hätten wir füreinander nicht unsichtbarer sein können.
»Setz dich. Geradeaus ist mein Schreibtischsessel.«
Die Geräusche verrieten mir seine Bewegungen. Er schloß die Tür, kam näher und stieß gegen den Sessel. Er mußte barfuß sein,
er fluchte. Dann hörte ich, wie die abgenutzten Federn des Sessels unter seinem Gewicht ächzten. Er war also kein Schatten.
Auch er hatte einen Körper, war gefangen zwischen zwei Ängsten: der Angst zu sterben und, jetzt nicht weniger stark, der Angst
zu leben.
Ich dachte, Meyssonnier würde sprechen, aber er sagte nichts. Colin war im Zimmer der ersten Etage mit Peyssou zusammen, ich
mit Thomas in der zweiten. Meyssonnier war in Birgittas Zimmer allein. Dunkelheit, Schlaflosigkeit und Alleinsein dazu, das
hatte er nicht auszuhalten vermocht.
In diesem Moment erinnerte ich mich an seine Mathilde und |113| an seine Streitereien mit ihr. Ich fühlte mich ein wenig schuldig, weil mir die Namen seiner beiden Jungen nicht einfallen
wollten. Wie er, Meyssonnier, noch leben konnte, das gerade hätte ich wissen mögen. Für mich war, abgesehen von Malevil und
meiner Arbeit, das Leben leer. Aber für ihn erst! Was muß es für ihn bedeuten, wenn alles, was er geliebt hat, in einem kleinen
Kasten unter der Erde ist?
Ich lag nackt auf meinem Bett und schwitzte. Wegen des Fensters waren wir unschlüssig gewesen. Es war so stickend heiß im
Zimmer, daß wir zuerst weit geöffnet hatten. Doch der beißende Brandgeruch war nicht lange zu ertragen. Die Natur draußen
hatte sich in dem größten Autodafé aller Zeiten gänzlich aufgezehrt. Keine Flammen mehr, die wenigstens geleuchtet hätten.
Durch das Fenster drang nur der Todesgeruch der verkohlten Landschaft herein. Bereits nach einer Minute hatte ich Thomas gebeten,
wieder zu schließen.
In der absoluten Dunkelheit des Zimmers gab es nichts als die Atemzüge dreier Männer und draußen, auf der anderen Seite der
durchglühten Mauern, einen toten Planeten. Mitten im Frühling, als die Knospen sich gerade gebildethatten, die Kaninchen in
ihrem Bau noch kaum geboren waren, hat man ihn umgebracht. Kein einziges Tier mehr. Kein Vogel mehr. Kein Insekt. Die Erde
verbrannt. Die Häuser eingeäschert. Da und dort zersplitterte und geschwärzte Pfähle, die einmal Bäume gewesen waren. Und
mitten in alldem eine Handvoll Menschen. Am Leben erhalten, vielleicht als Versuchstiere in einem Experiment? Das wäre lächerlich.
Inmitten dieses Infernos ein paar Lungen, die Luft pumpten. Herzen, die Blut pumpten. Gehirne tätiger Menschen. Tätig wofür?
Als ich zu reden begann, tat ich es, glaube ich, wegen Meyssonnier. Ich konnte es nicht mehr länger ertragen, daß er ganz
allein im Dunkeln vor meinem Schreibtisch saß und vor sich hin grübelte.
»Thomas?«
»Ja.«
»Wie erklärst du dir, daß es keine Radioaktivität gegeben hat?«
»Vielleicht war es eine Lithiumbombe«, sagte Thomas. Mit schwacher Stimme, aber sachlich und
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