Malevil
stand |116| Birgitta nackt zwischen meinen Beinen, und ich liebkoste sie. Ich weiß nicht, ob es die Wirkung dieser Erinnerung war, aber
anstatt Platz zu nehmen, blieb ich stehen und legte beide Hände auf die Lehne.
»Langweilst du dich hier nicht so allein, Meyssonnier? Soll ich dich nicht in einem Zimmer mit Colin und Peyssou unterbringen?«
»Nein, danke«, sagte er, schwach und traurig wie vorher. »Um zuhören zu müssen, wie Peyssou unaufhörlich von seinen Angehörigen
erzählt? Danke. Mir geht schon ohnehin genug im Kopf herum.«
Ich wartete, doch es kam nichts. Ich wußte es schon: Er würde nichts sagen. Nicht ein Wort. Weder über Mathilde noch über
seine beiden Jungen. Und da fielen mir plötzlich ihre Namen wieder ein: Francis und Gérard. Sechs und vier Jahre alt.
»Wie du willst«, sagte ich.
»Danke, aber es ist trotzdem sehr liebenswürdig von dir, Emmanuel«, sagte er, und die Gewohnheit, höflich zu sein, war so
stark, daß er bei dieser Floskel für Sekunden seine normale Stimme wiedergewann.
»Nun gut, ich gehe«, sagte ich.
»Ich verjage dich nicht«, sagte er in unverändertem Ton. »Du bist hier zu Hause.«
»Du auch«, sagte ich heftig. »Malevil gehört uns allen!«
Aber darüber äußerte er sich nicht.
»Also, bis morgen.«
»Immerhin«, sagte er, und seine Stimme erlosch wieder. »Mit vierzig ist man noch nicht sehr alt.«
»Nicht sehr alt inwiefern?« fragte ich nach einer Pause.
»Nun ja«, sagte er, »falls wir überleben, haben wir wenigstens noch dreißig Jahre vor uns. Ohne alles.«
»Du willst sagen, ohne Frau?«
»Nicht nur.«
Er wollte eigentlich sagen »ohne Kind«, aber er vermochte dieses Wort nicht auszusprechen.
»Nun denn«, sagte ich, »ich gehe jetzt.«
Ich tastete nach seiner Hand und drückte sie. Er erwiderte den Druck kaum. Wie sehr er litt, empfand ich wie durch eine Art
Ansteckung beinahe körperlich, und es war so grauenhaft, daß ich mich erleichtert fühlte, als ich wieder in meinem Zimmer |117| war. Doch war es dort vielleicht noch schlimmer, die Reserviertheit und Scham waren spürbar stärker.
»Geht’s ihm nicht gut?« fragte Thomas halblaut, und ich wußte ihm Dank für sein Interesse an Meyssonnier.
»Das kannst du dir vorstellen.«
»Ja«, sagte Thomas. Und er fügte hinzu: »Ich hatte Neffen im 14. Bezirk.«
Und auch, das wußte ich, zwei Schwestern und die Eltern. Alle in Paris.
»Meyssonnier hatte zwei Jungen. Sie waren sein ein und alles«, sagte ich.
»Und seine Frau?«
»Weniger. Sie machte ihm Szenen wegen seiner Politik. Sie fand, daß er dadurch Kunden verlor.«
»Und stimmte das?«
»Ja, es stimmte. In Malejac mußte der arme Meyssonnier an zwei Fronten kämpfen. Gegen den Bürgermeister und den klerikalen
Klüngel. Und zu Hause gegen seine Frau.«
»Ich verstehe«, sagte Thomas.
Doch er sagte es etwas barsch und aufgebracht, so als könnte er für Meyssonnier kein Mitleid erübrigen. Und in der Tat, Mitleid
erübrigen konnten nur ich und die Menou, da wir keine nahestehenden Verwandten verloren hatten. Meine Schwestern zählte ich
nicht zu meinen Angehörigen.
Während Thomas schweigend im Dunkeln lag, versuchte ich meine Schlaflosigkeit zu nutzen, um mir ein wenig Hoffnung aufzubauen.
Ich dachte an La Roque. Der kleine Flecken La Roque, etwa fünfzehn Kilometer von uns entfernt, ein alter, am Hang eines Hügels
erbauter befestigter Platz, war nämlich wie Malevil im Norden durch eine Steilwand geschützt. Heute morgen hatte ich vom Bergfried
nach dieser Seite hin nichts gesehen, doch war La Roque von Malevil aus sowieso nur bei sehr klarer Sicht wahrzunehmen. La
Roque zu Fuß zu erreichen, um sich Klarheit zu verschaffen, würde lange nicht möglich sein, wenn man berücksichtigte, wieviel
Zeit Thomas und seine Gefährten allein gebraucht hatten, um die eineinhalb Kilometer bis Malejac zurückzulegen.
»Die Metro oder die unterirdischen Parkplätze«, sagte Thomas plötzlich.
In seiner Stimme, in Meyssonniers Stimme und vermutlich |118| auch in meiner war nicht der Schmerz vorherrschend, sondern ein dumpfes Erstaunen. Was ich über diese Betroffenheit hinaus
empfand, war eine Erstarrung der Gedanken. Ich vermochte nur verworren und unendlich langsam zu denken. Es gelang mir nicht,
Zusammenhänge herzustellen. Ich brauchte mehrere Sekunden, um zu begreifen, was Thomas mir hatte sagen wollen.
»Kennst du die Tiefgarage an den Champs-Élysées?« fuhr Thomas mit der gleichen
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