Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Malevil

Malevil

Titel: Malevil Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: R Merle
Vom Netzwerk:
schwachen, aber wohlartikulierten Stimme fort.
    »Ja.«
    »Minimale Chancen«, sagte Thomas. »Ja, ich gebe zu, daß die Menschen, die sich dort in der Tiefgarage oder in der Metro aufhielten,
     gerettet sein könnten. Für den Augenblick. Aber danach?«
    »Wie danach?«
    »Gefangen wie die Ratten. Von einem Ausgang zum anderen laufen und sie von Trümmern blockiert finden.«
    »Vielleicht nicht alle«, sagte ich.
    Abermals Schweigen, und je länger es dauerte, desto mehr bekam ich die seltsame Empfindung, daß es die Dunkelheit verstärkte,
     in die wir getaucht waren. Nach einer Weile wurde mir bewußt, daß Thomas an seine Familie dachte, als er die Überlebenschancen
     von ein paar Leuten in Paris erwog.
    Ich wiederholte: »Vielleicht nicht alle.«
    »Nehmen wir es an«, sagte Thomas. »Doch das schiebt das Problem nur hinaus. Ihr auf dem Lande lebt autark. Ihr habt alles:
     Geschlachtetes, Getreide, Konserven im Überfluß, Eingemachtes, Honig, Fässer mit Öl – es gibt nichts, was ihr nicht habt.
     Aber in Paris?«
    »In Paris gibt es die großen Kaufhallen.«
    »Zertrümmert oder ausgebrannt«, sagte Thomas mit plötzlicher Heftigkeit, als ob er sich entschlossen hätte, auf jegliche Hoffnung
     zu verzichten.
    Ich schwieg. Ja, er hatte recht. Zertrümmert, ausgebrannt oder geplündert. Geplündert von den Horden Überlebender, die sich
     gegenseitig totschlagen. Mit einemmal sah ich in einer plötzlichen Vision das Schreckensbild der vernichteten großen Ballungszentren
     vor meinen Augen. Tonnenweise Betonschutt. Kilometerweit zerstörte Wohnhäuser. Ein Chaos, in dem man nichts mehr wiederfindet,
     nicht einmal eine Straße. Jeder Schritt |119| ist unmöglich in diesen Trümmerbergen. Wüste, Schweigen, Brandgeruch. Und unter den eingestürzten Häusern die Leichen von
     Millionen.
    Natürlich kannte ich die Tiefgarage an den Champs-Élysées. Im letzten Sommer hatte ich meinen Wagen dort geparkt, als ich
     Birgitta für zwei Tage nach Paris mitgenommen hatte. An sich schon eine grausige Szenerie. Und ich stellte sie mir vor, die
     Beleuchtung ist ausgefallen, die Überlebenden rennen verzweifelt von Kellergeschoß zu Kellergeschoß und finden alle Ausgänge
     blockiert.
    Darüber schlief ich ein, ich weiß nicht, wie, aus Erschöpfung wahrscheinlich. Ich hatte furchtbare Alpträume, in denen sich
     die Tiefgarage an den Champs-Élysées mit der Metro vermischte, die Metro mit dem Netz der Abwasserkanäle und der Trupp der
     Überlebenden mit den Ratten. Ich war selbst eine von diesen Ratten und betrachtete mich gleichzeitig, von mir gelöst, mit
     Ekel.
    Am nächsten Morgen trommelte Momo an unsere Türen, um uns zu wecken. Zum Frühstück hatte die Menou eine Überraschung für uns
     vorbereitet. Sie hatte auf die lange Klostertafel im Wohnbau ein bunt gemustertes, schon ein wenig geflicktes baskisches Tuch
     gebreitet (es war das am häufigsten benutzte von einem Dutzend Tafeltüchern, die bei der Tante zusammengefaltet im Schrank
     gelegen hatten und die die Menou mit einer so eifersüchtigen Sorgfalt für mich aufbewahrte, als sollte ich zweihundert Jahre
     leben). Darauf hatte sie Wein und Gläser gestellt und auf die Teller je eine Scheibe Bauchfleisch und Schinken gelegt – ein
     Zeichen, daß die Sparsamkeit ein wenig nachgelassen hatte, seit die Menou wußte, daß Adelaide am Leben bleiben und ferkeln
     würde. Neben den Tellern lag eine mit Schmalz bestrichene große Scheibe Brot, denn es war immerhin besser, den Laib zu verbrauchen,
     als ihn »verderben zu lassen«. Der Laib, in drei Tagen altbacken geworden, war hart. Und Butter gab es nicht. Sie war im Kühlschrank,
     der keinen Strom mehr hatte, geschmolzen.
    Als alle da waren, setzte ich mich und ließ jeden seinen Platz wählen. Thomas setzte sich zu meiner Rechten, Peyssou zu meiner
     Linken. Meyssonnier mir gegenüber. Zu seiner Rechten Colin, zu seiner Linken Momo und neben Momo, ans Ende der Tafel, die
     Menou. Ich weiß nicht, ob sich Gewohnheit gleich |120| beim ersten Mal einstellt, doch diese Tischordnung wurde in der Folgezeit niemals geändert, wenigstens so lange nicht, wie
     wir nur sieben in Malevil waren.
    Ich hatte ein Gefühl von Unwirklichkeit bei diesem Frühstück, das sich nicht sonderlich von dem unterschied, was die Menou
     jeden Morgen für Boudenot anrichtete. Ich saß auf einem Stuhl vor einem sauberen Tischtuch, aß mit Messer und Gabel, und nichts
     außer den Rinnsalen geschmolzenen Bleis an den kleinen

Weitere Kostenlose Bücher