Malice - Du entkommst ihm nicht
Klein, dicklich, mit einem praktischen Kurzhaarschnitt. Blonde Haare, in die sich immer mehr graue Strähnen mischten. Sie war stets gut gelaunt und lachte vie l – aber es war das Lachen von jemandem, der gar nicht wusste, warum er überhaupt lachte.
Manchmal kam es Seth vor, als wären die beiden schon längst tot. Er hatte den Eindruck, dass durch die Welt der Erwachsenen eine unsichtbare Trennlinie verlief: auf der einen Seite die wirklich Lebenden, auf der anderen die längst Toten. Die wirklich Lebenden hielten sich jung, legten Wert auf ihr Aussehen und gingen ins Theater, ins Kino oder in Restaurants. Sie waren voller Lebensfreude und das strahlten sie auch aus. Die längst Toten schleppten sich jeden Morgen zur Arbeit und abends wieder nach Hause, hockten sich vor den Fernseher und wurden mit jedem Tag fetter und teilnahmsloser. Sie kauften nur preiswerte, praktische Kleidung und kümmerten sich nicht darum, wie sie aussahen, weil sie sowieso nie unter Leute gingen.
Wenn Seth seine Eltern ansah, bekam er Angs t – Angst, dass er als Kind von längst Toten irgendwann genauso vor sich hin vegetieren würde wie sie.
»Wag es nicht, mich noch einmal so anzubrüllen!«, drohte sein Vater wütend, nachdem er sich von seiner Überraschung erholt hatte.
»Lass ihn, Mike. Er macht sich doch nur Sorgen. Sei nicht s o …«
»Ich dulde es nicht, dass in meinem eigenen Haus so mit mir geredet wird, Jane!«
Seth schleuderte die Zeitschrift auf den Boden, sprang auf und stürmte aus dem Zimmer. Er hielt es keine Minute länger mehr hier aus. Konnte sein Vater sich denn nicht ein einziges Mal zurückhalten? Er sah doch, dass ihn die Sorge um seinen besten Freund völlig fertigmachte. Aber nein, selbst in so einer Situation musste er auf ihm herumhacken. Im Hinausgehen hörte er, wie seine Mutter versuchte, seinen Vater zu beruhigen und davon abzuhalten, ihm hinterherzulaufen.
»Nicht, Mike. Lass ihn. Er meint es doch nicht so. Du machst alles nur noch schlimmer.«
Seth riss die Haustür auf und fuhr erschrocken zusamme n – vor ihm stand Heather, die genauso erschrak wie er und einen spitzen Schrei ausstieß. Seth lachte nervös. »Oh Gott, Heather. Ich glaub, du hast mich gerade umgebracht.«
Aber Heather war nicht in Stimmung für lahme Witze. Sie schaute ihn nur an und machte ein Gesicht, als würde sie gleich in Tränen ausbrechen. Seth vermutete, dass sie wohl schon länger so vor der Tür gestanden hatte, ohne zu klingeln.
»Alles okay?«, fragte er. Aber sie biss sich nur auf die Unterlippe und schüttelte den Kopf. »Willst du reinkommen?« Wieder Kopfschütteln.
»Ic h … ich muss dir was sagen«, stammelte sie schließlich. »Es geht u m … Luke.«
Seth warf über die Schulter einen Blick zum Wohnzimmer, dann trat er in den lauen Abend hinaus und zog die Tür hinter sich zu.
»Komm«, sagte er sanft, »gehen wir ein Stück.«
2
Lukes Mutter hatte geweint. Ihre Augen waren gerötet und sie wischte sich mit einem Taschentuch über die Nase, als sie ihnen die Tür öffnete. Seth sah, wie ein enttäuschter Ausdruck über ihr Gesicht huschte, als sie ihn und Kady erblickte. Wahrscheinlich hatte sie einen kurzen Moment lang gehofft, Luke wäre zurückgekehrt.
»Er ist noch nicht wieder da«, sagte sie tonlos.
»Das wissen wir«, sagte Seth. Er hatte sich davor gefürchtet, ihr gegenüberzutreten, aber es war sogar noch schlimmer, als er es sich vorgestellt hatte. Ihre blonden Haare waren strähnig und ungekämmt und sie schien in den letzten Wochen um zehn Jahre gealtert zu sein. Ihre Trauer machte ihn hilflos. Wenn er auch nur eine Sekunde lang geglaubt hätte, Luke wäre wirklich von zu Hause abgehauen, wäre er stinksauer auf seinen Freund gewesen, weil er seiner Mutter so etwas antat. Aber seit dem Gespräch mit Heather war er sich absolut sicher, dass diese Möglichkeit ausgeschlossen werden konnte.
»Warum seid ihr hier?« Lukes Mutter steckte das Taschentuch weg, zog eine Schachtel Zigaretten aus der Tasche, nahm mit zittrigen Fingern eine heraus und zündete sie an.
»Dürfen wir uns ein bisschen in Lukes Zimmer umsehen?«
Sie blies Rauch aus und sah ihn fragend an. Offensichtlich wartete sie auf eine Erklärung.
»Na ja, vielleicht finden wir ja etwas, was die Polizei übersehen hat. Etwas, von dem nur wir wissen, dass es wichtig ist.«
Lukes Mutter starrte ihn schweigend an. Nervös versuchte er ihrem bohrenden Blick standzuhalten und warf schließlich Kady einen Hilfe suchenden
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