Malice - Du entkommst ihm nicht
Und Kady hatte keine andere Wahl gehabt, als mitzukommen.
Ihr Umzug war mittlerweile beinahe ein Jahr her und seitdem war Kady ständig ruhelos und angespannt und hatte das unbestimmte Gefühl, eigentlich ganz woanders sein zu müssen.
Ihr Blick wanderte zu ihrem Bücherregal, in dem ein kleines Kunstobjekt stand. Sie hatte nur zwei Erinnerungsstücke aus San Francisco mitgebracht. Diese kleine Skulptur war eines davon. Warum sie das komische Ding, das sie in einem Antiquitätenladen in Haight-Ashbury entdeckt hatte, gekauft hatte, wusste sie selbst nicht mehr. Wahrscheinlich hatte sie es einfach interessant gefunden. Es war alles andere als schön, hatte aber irgendetwas an sich, was sie faszinierte. Es sah aus wie ein uralter steinerner Krake aus der Tiefsee, der seine grauen Tentakel um ein Ei geschlungen hatte. Das Ei bestand aus einem durchscheinenden Mineral, und wenn man lange genug hineinschaute, schien es auf geheimnisvolle Art von innen heraus zu leuchten.
Kady öffnete eine der Schreibtischschubladen und zog ihr zweites Mitbringsel heraus. Einen weißen Geldschein. Wahrscheinlich Spielgeld. Innerhalb eines gezackten Rahmens war auf der Vorder- und der Rückseite in einem Dornenkranz jeweils groß die Ziffer Eins gedruckt. Jess hatte den Schein eines Tages auf der Straße gefunden, kurz überlegt und ihn dann Kady in die Hand gedrückt. »Hier, für dich. Vielleicht bringt er dir ja Glück«, hatte sie gesagt.
Marlowe maunzte empört, weil er offensichtlich fand, dass nichts wichtiger sein konnte als seine Streicheleinheiten. Kady musste lachen und drückte ihn an sich. Der Kater war das Schönste, was ihr passiert war, seit sie in Hathern wohnte. Ein paar Tage, nachdem sie hergezogen waren, hatte er plötzlich mitten im Umzugschaos vor der Tür gestanden. Sie hatte ihn hereingelassen und ihm zu fressen gegeben und er war geblieben. Da er gesund und wohlgenährt ausgesehen hatte und kein Streuner zu sein schien, hatte Alana darauf bestanden, überall Zettel aufzuhängen, um seine Besitzer zu finden. Aber nachdem sich niemand gemeldet hatte, war sie einverstanden gewesen, ihn zu behalten. »Na gut. Dann hat ihn anscheinend das Schicksal zu uns geführt.«
Nach einer Weile hatte Marlowe genug von Kadys Streicheleinheiten, glitt geschmeidig vom Schreibtisch, sprang mit einem Satz aufs Bett und rollte sich dort zum Schlafen zusammen. Kady legte den weißen Geldschein wieder in die Schublade zurück, schaltete den Computer aus und ging ins Bad, um zu duschen.
Marlowe, der nur so tat, als würde er schlafen, sah ihr mit seinen zu schmalen Schlitzen verengten grünen Augen hinterher.
Alles verblasst
1
Polizisten tauchten im Ort auf und stellten eine Unmenge von Fragen, auf die niemand eine Antwort wusste. Die Zeit verging unerträglich langsam und irgendwann waren zwei Wochen verstrichen, ohne dass sich irgendetwas Neues ergeben hätte. Es gab nur Vermutungen und Gerüchte, Sorgen und Ängste, Wut und Verzweiflung. Luke war und blieb verschwunden.
»Wie konnte der Junge seiner Mutter das nur antun?«, schimpfte Seths Vater, ohne den Blick vom Fernseher abzuwenden, wo eine Uralt-Comedyserie aus den Siebzigerjahren wiederholt wurde. »Da rackert sich diese arme alleinerziehende Frau Tag für Tag für ihren Sohn ab und was tut er? Haut einfach ab! Das ist doch nicht zu fassen!«
»Hör auf, Mike! Bitte! Er ist doch sein bester Freund«, ermahnte ihn seine Frau mit Blick auf Seth, der auf der Couch lag und stumm in einer Zeitschrift blätterte.
Aber Seths Vater dachte gar nicht daran aufzuhören. Damit hätte er ja indirekt zugegeben, dass sein Wutausbruch ziemlich unsensibel gewesen wa r – und vor anderen einen Fehler einzugestehen, war definitiv nicht seine Stärke. »Na und? Man wird ja wohl noch seine Meinung sagen dürfen. Diesen egoistischen Rotzbengel kümmert es doch einen feuchten Dreck, dass seine Mutter mit den Nerven fix und fertig ist. Die arme Linda, kann ich da nur sagen! Und was glaubst du wohl, von welchem Geld die Polizei bezahlt wird, die jetzt Tag und Nach t …«
»Verdammt, Dad!«, entfuhr es Seth. »Luke ist nicht von zu Hause abgehauen, er ist entführt worden.«
Komm und hol mich, Tall Jake.
Seine Eltern starrten ihn erschrocken an. Seth betrachtete das müde Gesicht und den immer kahler werdenden Schädel seines Vaters. Seine schmale Nase und die von Akne vernarbten Wangen. Die kleinen Augen, die sich nie für irgendetwas zu interessieren schienen. Er sah seine Mutter an.
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