Malice - Du entkommst ihm nicht
und auf gar keinen Fall seine Eltern um das Geld dafür hätte bitten können.
»Was? Du willst nach London?«, hätten sie gesagt. »Und was soll es bitte schön in London geben, das du nicht genauso gut in Leicester kaufen könntest? Dort bekommt man alles, was man braucht.«
Den wahren Grund hätte er ihnen natürlich niemals sagen können. Sie hätten ihn sofort zum Psychotherapeuten geschleppt.
Spinne ich vielleicht wirklich? , fragte er sich jetzt, als er im Zug saß und dem blechernen Schlagzeugbeat lauschte, der aus Kadys Kopfhörern drang. Nein, er hatte nicht den Eindruck, dass er verrückt war. Natürlich wusste er, wie abgedreht seine Geschichte sich anhören musste. Aber Kady hatte nicht den Ausdruck in Lukes Augen gesehen und die Angst in Heathers Stimme gehört. Und als er in Lukes Zimmer gewesen war, hatte er ganz deutlich gespürt, dass dort etwas Unerklärliches vor sich gegangen war. Etwas, was mit Lukes Verschwinden zu tun hatte. Etwas Furchtbares.
In London angekommen, stiegen sie in die U-Bahn nach New Cross um. Kady, die endlich ihre Ohrstöpsel herausgenommen hatt e – offensichtlich fand sie, dass sie Seth genug bestraft hatt e –, war wieder so gut gelaunt wie sonst und plapperte fröhlich auf ihn ein. Aber Seth fiel auf, dass sie das Thema Luke oder Malice tunlichst mied.
Es war nicht zu übersehen, wie sehr Kady die Hektik und das Gewimmel der Großstadt liebte. Schon allein die Tatsache, dass sie in London war, schien ihr einen Energieschub zu versetzen.
Seth fand die Großstadt eher anstrengend und schrecklich anonym. Verstohlen blickte er in die müden Gesichter der Pendler, die wie in einen grauen Käfig eingepfercht in der stickigen U-Bahn standen. Fast jeder verschanzte sich hinter einem Buch oder einer Zeitung oder lauschte dem, was ihm seine iPod-Stöpsel ins Ohr dudelten. Jeder vermied es, die anderen anzusehen, und niemand unterhielt sich. Hathern war zwar ein kleines Kaff, in dem nie etwas Spannendes passierte, aber dafür kannte dort jeder jeden.
Als sie aus den Tiefen der U-Bahn wieder ans Licht kamen, fanden sie sich in einem der schäbigen Vororte Londons wieder, in die sich nur selten ein Tourist verirrte. Das Wetter ließ die heruntergekommenen Straßen noch trostloser wirken. Es war so diesig, dass der Himmel aus einer einzigen grauen Wolkendecke bestand und die Sonne nur ein fahl leuchtender Lichtfleck war.
»Tja.« Kady sah sich mit gespielt bedauernder Miene um. »Shoppen gehen fällt hier wohl schon mal flach, würde ich sagen.«
»Los, komm«, drängte Seth. »Je schneller wir die Adresse finden, desto früher kannst du mir unter die Nase reiben, was für ein Loser ich bin und dass die ganze Aktion komplette Zeitverschwendung war.«
»Das weiß ich auch so.« Kady kicherte. »Dafür dass ich trotzdem mit dir hergekommen bin, schuldest du mir was. Vergiss das bloß nicht.«
Obwohl Kady den Stadtplan von Lukes Computer ausgedruckt hatte, verliefen sie sich mehrmals und mussten immer wieder zu ihrem Ausgangspunkt zurückkehren. An vielen Kreuzungen fehlten die Straßenschilder und die endlosen Häuserreihen sahen alle gleich aus.
»Keine Ahnung, wen Luke da besucht hat, aber anscheinend legt er es darauf an, nicht gefunden zu werden«, stöhnte Kady, nachdem sie zum dritten Mal falsch abgebogen waren. Irgendwann fanden sie endlich die gesuchte Straße, die entlang einer niedrigen Eisenbahnbrücke verlief. Auf der rechten Seite ragten hinter verwitterten Gartenmauern Reihenhäuser empor, auf der linken waren in den Brückenbögen kleine Kfz-Werkstätten und Reparaturbetriebe untergebracht. Hinter stählernen Schiebetüren wurde gebohrt und gesägt, davor machten sich Mechaniker mit ölverschmierten Gesichtern an Autos zu schaffen und rissen zotige Witze.
»Was kann er bloß hier gewollt haben?«, sagte Seth enttäuscht. Irgendwie hatte er sich den Ort, den Luke heimlich aufgesucht hatte, ganz anders vorgestellt.
»Numme r 42 muss noch ein Stückchen weiter vorne sein!«, rief Kady. »Los, komm, wir sind fast da.«
Sie kamen an mehreren verlassenen Läden mit geweißten Schaufensterscheiben vorbei. Eine Reinigung, eine Taxizentral e …
… ein Comicladen.
Seths Herz machte einen Sprung, als er die Hausnummer sah: 42. Ein winziges Geschäft, das fernab der Innenstadt unter einer Eisenbahnbrücke versteckt lag. Die Fenster waren dunkel und die Backsteinwand war mit Graffiti besprüht. Und auf dem Schild, das im Gegensatz zum Rest des Ladens brandneu
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