Malice - Du entkommst ihm nicht
ersten Moment erkannte er sich selbst nicht wieder.
Das Licht begann wieder zu flackern. Es erlosch, dann flammte es wieder auf.
Da!
Er wirbelte herum, doch da war niemand. Seth stieß keuchend den angehaltenen Atem aus. Für den Bruchteil einer Sekunde hatte er im Spiegel jemanden in der Duschkabine stehen sehen. Jemand sehr Großen.
Ein Klopfen an der Tür.
Seth zuckte zusammen. Das Licht hörte schlagartig auf zu flackern.
»Seth?«, hörte er seine Mutter rufen. »Ist alles in Ordnung?«
Er hatte noch nie in seinem Leben eine Tür so schnell aufgerissen. Vor ihm stand seine Mutter im Bademantel mit zerzausten Haaren. Eine langweilige, normale und vor allem völlig ungefährliche Frau. Ihre Anwesenheit schien den Bann irgendwie gebrochen zu haben. Das Gefühl unmittelbar drohender Gefahr verblasste wie ein schlimmer Traum.
»Mit wem hast du denn gerade geredet?« Sie spähte an ihm vorbei in den Raum.
»Ich? Ä h … ach so.« Er lächelte schwach. »Ein Freund hat mich auf dem Handy angerufen, während ich im Bad war.«
»Um diese Zeit?«
Er zuckte mit den Achseln. »Ja.«
Sie hob den Kopf und schnupperte. »Hier riecht es irgendwie nach versengten Haaren.«
Seth machte ein erstauntes Gesicht, als wüsste er nicht, wovon sie redete. »Vielleicht verbrennt jemand draußen auf den Feldern Laub«, sagte er. »Das Fenster ist offen.«
Sie war zu müde, um der Sache auf den Grund zu gehen. Als sie gähnte stellte Seth fest, dass sie alt aussah. Das war ihm vorher nie so aufgefallen.
»Tut mir leid, dass ich dich geweckt hab«, entschuldigte er sich.
Sie winkte ab. »Das macht doch nichts. Was geistert du hier um diese Zeit eigentlich noch herum?«
»Ich konnte nicht schlafen.«
»Soll ich dir vielleicht einen Tee machen oder einen heißen Kakao, damit du besser einschlafen kannst?«
Ihre Fürsorglichkeit versetzte ihm einen Stich. In diesem Moment wünschte er sich verzweifelt, er könnte ihr sagen, was er getan hatte. Er wünschte, er könnte ihr von Malice erzählen und ihr versichern, dass er niemals von zu Hause weglaufen würde (auch wenn er im Grunde genau das vorgehabt hatte) und dass er wusste, dass sie immer nur sein Bestes gewollt hatte.
Er hätte ihr all das so gerne gesagt, aber er wusste, dass sie es nicht verstanden hätte.
Aus einem spontanen Gefühl heraus umarmte er sie. Und obwohl sie normalerweise kaum körperliche Zärtlichkeiten austauschten, erwiderte sie seine Umarmung, als wäre es das Natürlichste der Welt.
»Es tut mir leid, Mum«, sagte er leise. »Es tut mir leid, dass ich dir immer so viel Ärger mache. Du hast was Besseres verdient als mich.«
»Seth!«, schimpfte sie lächelnd. »Was redest du denn da für einen Unsinn? Ich bin sehr stolz auf dich. Und dein Vater genauso, auch wenn er es nie zugeben würde. Wie kommst du denn darauf, so etwas zu sagen?«
»Ich weiß auch nicht, Mum. Vielleicht bin ich bloß müde.«
Sie strich ihm die Haare aus der Stirn und fühlte, ob er vielleicht Fieber hatte. So war sie eben. Sie meinte es gut, aber sie tat immer das Falsche.
»Du solltest jetzt wieder ins Bett. Möchtest du einen Kakao?«
»Nein, nein. Ich glaub, ich leg mich einfach hi n …«
»Na gut. Dann gute Nacht.«
»Nacht.«
Seth ging über den Flur in sein Zimmer und schloss die Tür hinter sich.
»Leb wohl, Mum«, sagte er leise.
Jetzt wurde ihm alles klar. Das Ritual und der Spruch waren nur eine Art Anfrage. Tall Jake kam, wann er wollte. Vielleicht heute Nacht, vielleicht morgen. Vielleicht erst in einer Woche, vielleicht auch nie. Aber wenn er es wollte, wenn er entschieden hatte, jemandem eine Rolle in seinem schrecklichen Spiel zuzuweisen, dann kam er, wenn derjenige allein war.
Obwohl offenbar keine unmittelbare Gefahr drohte, machte Seth sich keine Illusionen. Er hatte die Dunkelheit in sein Leben gerufen. Es war nur eine Frage der Zeit, wann sie ihn mit sich riss.
Er knipste das Licht aus und legte sich vollständig angekleidet ins Bett. Erst jetzt spürte er, wie müde er war. Die Anspannung und die Angst hatten ihn ausgelaugt.
Irgendwann merkte er, dass ihm die Augen zugefallen waren, und riss sie erschrocken wieder auf. Er hatte die Jalousie nicht heruntergelassen und das helle Mondlicht fiel ins Zimmer. Die Antennen auf den Nachbarhäusern ragten wie dunkle Striche in den Himmel.
Ich habe es getan, dachte er, und der Gedanke war seltsam beruhigend. Er hatte einen Kurs eingeschlagen und jetzt würde alles seinen Lauf nehmen.
Er dachte an
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