Malice - Du entkommst ihm nicht
»Glaub mir, die lassen sich von niemandem einschüchtern. T.J. wird es noch bitter bereuen, sie hierhergeholt zu haben.«
»T.J.?«
»Tall Jake.«
Seth grinste. Tall Jake hatte ihn gestern Nacht vor Angst fast um den Verstand gebracht. Zu hören, wie jemand seinen Namen spöttisch auf zwei läppische Buchstaben reduzierte, ließ ihn etwas weniger bedrohlich wirken. Und dass es eine Widerstandsgruppe wie Havoc gab, erfüllte ihn mit genau dem Funken Hoffnung, den er dringend brauchte. Möglicherweise war seine Lage doch nicht so ausweglos.
»Das heißt, die Züge fahren erst wieder, wenn die Uhr wieder geht?«, fragte er.
»Ganz genau. Die Züge fahren nach Fahrplan. Die verspäten sich nie. Nicht bei der Abfahrt und auch nicht bei der Ankunft. Dieser Zug fährt erst aus dem Bahnhof, wenn die Uhr die genaue Abfahrtszeit anzeigt.«
»Du weißt ganz schön viel über Malice«, stellte Seth fest.
»Na ja, ich hab die Hefte ein Jahr lang gelesen, bevor ich den Spruch gesagt hab. Da hab ich ’n paar Sachen mitgekriegt.«
»Ein Jahr lang?«, staunte Seth. »Wie lange gibt es den Comic denn schon?«
»Keine Ahnung.« Justin zuckte mit den Schultern. »Das weiß keiner so richtig. Ein paar Jahre bestimmt. Drei oder vier vielleicht.«
Vier Jahre? , dachte Seth. Wie viele Jugendliche sind während dieser Zeit wohl hergekommen? Und wie viele von ihnen sind gestorbe n – wie Luke?
Der Gedanke erfüllte ihn mit Wut und Abscheu. Irgendjemand musste etwas unternehmen. Er musste etwas unternehmen.
4
Als sie zum Kellerversteck zurückkehrten, herrschte unter den Bewohnern helle Aufregung.
Dan ließ sie herein und verkündete: »Colm ist komplett durchgedreht.« Aber das hätte er ihnen gar nicht sagen müssen, Colms verzweifelte Schreie waren laut und deutlich zu hören.
Justin schob sich an Dan vorbei und gab Seth ein Zeichen, ihm zu folgen. Sie stellten ihre Eimer mit der Pampe in eine Ecke und gingen in die Richtung, aus der das Gebrüll kam. Mehrere Jugendliche standen dicht gedrängt um eine verhängte Tür und lauschten mit ängstlicher Neugier, während Colm in dem dahinterliegenden Raum tobte und mit heiserer Stimme herumschrie. Als Seth und Justin näher kamen, schepperte gerade eine Lawine von Blechnäpfen über den Boden. Einer schlitterte unter dem Vorhang hindurch an Justins Füßen vorbei.
Vorsichtig spähten sie in den Raum, der einem Schlachtfeld glich. Colm hatte alles herumgeschmissen, was er zwischen die Finger bekommen hatt e – zusammengerolltes Bettzeug, Näpfe und Kochtöpfe. Außerdem war eine der Rohrleitungen, die entlang der Wände verliefen, eingedellt.
Colm stand schwer atmend mit schweißverklebten Haaren und gefletschten Zähnen vor ihnen und hielt den Kristall in einer Hand. Seth zuckte zurück, als ihm wieder der saure Geruch verwahrloster, ungewaschener Körper entgegenschlug, der sich in dem stickigen Kellerraum festgesetzt hatte. Justin nahm ihn vermutlich gar nicht mehr wahr.
»Hey, hey! Beruhige dich mal, Alter!«, sagte Justin, als sie das Zimmer betraten.
»Ich habe sie gehen lassen!«, heulte Colm. »Sie ist nur meinetwegen gestorben.«
»Nein, ist sie nicht«, widersprach Justin. »Sie ist gestorben, weil sie in Malice war. Sie hat bloß versucht rauszukommen, wie wir alle.«
»Ich hätte mitgehen sollen«, schrie Colm und kickte eine Schale gegen die Wand.
»Damit machst du sie auch nicht wieder lebendig, Colm«, versuchte Seth ihn zu beruhigen. »Glaubst du, sie hätte das gewollt?«
»Was willst du überhaupt?«, fragte Colm. »Du hast Tatyana doch noch nicht mal gekannt!«
»Das ist der Typ, dem du es zu verdanken hast, dass du den Kristall und das Armband und das Ticket hast«, mischte Justin sich ein. »Wenn er nicht gewesen wäre, wäre sie komplett umsonst gestorben.«
Colm funkelte Seth durch die Haarsträhnen an, die ihm in die Augen hingen, als versuchte er zu entscheiden, ob er Freund oder Feind war. Dann wandte er sich wieder Justin zu.
»Ich muss hier raus«, erklärte er erschöpft. »Ich hab mein Ticket. Ich muss hier raus. Das ist genau das, was sie auch gewollt hätte.«
»Vollkommen richtig, Alter«, bestätigte Justin. »Du kannst hier raus, sobald die Züge wieder fahren.«
»Aber das kann noch Wochen dauern! Oder Monate! Du weißt auch nicht, wann sie wieder fahren, oder?«
»Nein.« Justin verlor langsam die Geduld. »Ich hab keine Ahnung. Dir wird wohl nichts anderes übrig bleiben, als einfach so lange zu warten.«
Colm schüttelte
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