Malice - Du entkommst ihm nicht
es dunkel und am Tag war es hell. Schau nach rechts und links, bevor du eine Straße überquerst. Traue niemandem, den du nicht kennst. Iss mit Messer und Gabel. Im Sommer scheint die Sonne (manchmal) und im Winter ist es kalt. Monster gibt es nicht.
Aber in Malice galten andere Regeln. Regeln, die er nicht kannte.
Ich muss die Regeln lernen, die hier gelten. Dann habe ich eine Chance.
An diesen Gedanken klammerte er sich. Wenn er diese Welt als Herausforderung begriff, fühlte er sich ihr etwas weniger ausgeliefert. Es gab Wege, die nach draußen führten. Er musste nur einen davon finden.
»Diese Dinger sind echt unglaublich. Wahnsinn.« Justin schüttelte staunend den Kopf, während er den komplizierten Mechanismus in der Schulter des Zischlers auseinanderbaute.
»Hm? Was hast du gesagt?« Seth schreckte aus seinen Gedanken auf.
»Hey, du lebst ja noch«, sagte Justin. »Ich dachte schon, du wärst ins Koma gefallen.«
»Ich bin noch da.« Seth streckte seine vom langen Sitzen steif gewordenen Glieder. »Ich hab nur nachgedacht.«
»Und? Hat’s was gebracht?«
»Jedenfalls hab ich nicht mehr das Gefühl, dass ich jeden Moment wahnsinnig werde. Das ist schon mal ein Fortschritt.«
»Das ist die richtige Einstellung. Wart’s ab, bald hast du dich daran gewöhnt.« Justin klopfte mit dem Schraubenzieher auf die Metallhülle des Zischlers. »Ich könnte Ewigkeiten an den Biestern rumschrauben und würde trotzdem nie ganz verstehen, wie sie funktionieren. Irgendwie zieht sich das Uhrwerk, das sie antreibt, von selbst au f – nur dadurch, dass sie sich bewegen. Und dann das Gehir n … echt irre. So was gibt’s da, wo wir herkommen, nicht.«
»Sie werden von der Lebenszeit ermordeter Jugendlicher angetrieben«, sagte Seth. »Falls du’s vergessen hast.«
»Stimmt natürlich.« Justin kratzte sich mit dem Schraubenzieher hinterm Ohr. »Ich kann mir schon vorstellen, dass es Leute gibt, die damit ein Problem hätten.«
Seth stand auf und ging zu ihm herüber, um sich anzuschauen, was er da eigentlich genau tat. Er wusste noch nicht recht, wie er Justin einschätzen sollte. Redete er so nüchtern darüber, weil ihm das Leben hier wirklich nichts ausmachte, oder wollte er bloß nicht zugeben, dass Malice auch ihm Angst einflößte? Er schien aus ziemlich einfachen Verhältnissen zu stammen, das hörte man, und seine Stimme hatte immer einen leicht aggressiven Unterton, selbst wenn er freundlich war. Obwohl er eher klein und schmächtig gebaut war, wirkte er wie jemand, der sich sehr gut behaupten konnte.
»Du scheinst ja ein ziemlich guter Mechaniker zu sein«, stellte Seth fest.
Justin zuckte bloß mit den Achseln.
»Wie bist du überhaupt hergekommen?«
Justin antwortete nicht.
»Schon okay. Du musst nicht darüber reden, wenn du nicht willst.«
»Das ist hier wie im Gefängnis, Alter«, sagte Justin. »Man fragt die Leute nicht, warum sie hier sind. Wenn sie Bock haben, erzählen sie’s dir irgendwann von selbst.«
»Ist das im Gefängnis so?«, fragte Seth.
Justin warf ihm einen giftigen Blick zu und beugte sich wieder über den Zischler, um weiter sein Innenleben zu untersuchen. »Ich war drei Monate in der Jugendstrafanstalt, falls du’s genau wissen willst. Und wenn du keine blutige Lippe riskieren möchtest, fragst du mich lieber nicht, warum ich dort war.«
»Warum warst du dort?«, fragte Seth automatisch.
»Sag mal, bist du taub oder was?« Justin schleuderte den Schraubenzieher zur Seite, sprang auf die Füße und baute sich wütend vor Seth auf.
»Du hast mir gerade gedroht«, erklärte Seth ganz gelassen. »Ich rate dir, mir nicht zu drohen, wenn du es nicht ernst meinst.«
Irgendetwas in seinem Innere n – wahrscheinlich die Stimme der Vernunf t – fragte ihn, warum er sich immer wieder in solche Situationen brachte. Wieso er ausgerechnet mit dem einzigen Menschen Streit anfing, der hier unten so eine Art Freund werden könnte? Aber er war noch nie vor einer Auseinandersetzung zurückgeschreckt. Und wenn ihm jemand Prügel androht e – ganz egal we r –, dann machte er demjenigen klar, dass er sich nicht einschüchtern ließ. So war er nun mal.
Justin starrte ihn mit zusammengekniffenen Augen an.
Seth war zwar größer, war sich aber ziemlich sicher, dass Justin auch auf jemanden einprügeln würde, der doppelt so groß war wie er, wenn man ihn provozierte.
Zu seiner Überraschung lächelte Justin. Widerstrebend zwar, aber er lächelte. »Du bist in Ordnung«, sagte er
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